Sprechende Büsche
Gestern in der Karlsaue: Eine Familie - Vater, Mutter, Kind. Ein Geräusch. „Was ist das?“ fragt das Kind.
Der Vater sucht nach der Quelle des Geräuschs und sagt: „Es wird ein Frosch sein… so nah am Küchengraben“. Die Mutter bleibt vorsichtig in einiger Entfernung stehen und wartet, was ihr Mann erkundet. Doch hinter der Betonmauer ist kein Frosch. Jetzt merkt er, dass das Geräusch aus einem Haufen Zweigen kommt, die auf der Erde zusammengelegt wurden. „Mud…“ tönt es. „Oh, die Zweige sprechen…. muss wohl Kunst sein.“
Soundinstallation von Benjamin Patterson (1934 Pittsburg -2016 Wiesbaden), Fluxus- Künstler
Nachsatz:
Draußen in meinem Garten, unter der Hecke neben dem Wintergarten, hustet es seit Kurzem manchmal. Man sagte mir jedoch, das sei kein Kunstwerk der documenta 14, sondern ein Igel.
Sylvia Stöbe, Kassel den 21.8.17
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Barbara Schirmer // Karl-Kaltwasser-Straße 22 // 34121 Kassel, 19.08.2017
Der Obelisk auf dem Kasseler Königsplatz,
eine kurze Geschichte zur Wirksamkeit von Kunstwerken
Als ich zum ersten Mal vor dem Obelisken auf dem Königsplatz stand, liefen mir plötzlich Tränen übers Gesicht: Tränen der Dankbarkeit und der Rührung.
Ich war ein Flüchtling, gerade mal 2 ½ Jahr alt, ich wurde in dieser Stadt 1946 aufgenommen, ich fand hier eine Heimat.
Dafür bin ich heute umso dankbarer als ich inzwischen weiß, wie stark zerstört die Stadt damals war und welche Schrecken und Verluste die Bevölkerung erlebt und erlitten hatte.
Meine erste Erinnerung aus dieser Zeit war der Blick in die Königsstraße, vom Landesmuseum aus in Richtung Königsplatz, die Erinnerung an die zerstörten Häuser, die zumeist nur noch aus Gerippen bestanden. Mein Schrecken darüber war so groß, dass mir diese Erinnerung bis heute deutlich geblieben ist.
Ich halte den Königsplatz eindeutig für den richtigen Standort für dieses Denkmal. Durch die asymmetrische Aufstellung wird meines Erachtens die besondere Aufmerksamkeit des Betrachters gezielt verstärkt.
Ein Nachsatz:
Den Mitgliedern der AfD empfehle ich, sich in ihren Familiengeschichten über Flucht und Vertreibung und die Aufnahme in der Fremde kundig zu machen. Sie werden erstaunt sein.
Barbara Schirmer // Karl-Kaltwasser-Straße 22 // 34121 Kassel, 19.08.2017
Das neue documenta-Institut
Aus der Bedarfsplanung -in dem Bereich haben wir lange gearbeitet- kennen wir es eigentlich nur so, dass es einen Bedarf gibt; die Nutzer formulieren diesen Bedarf, d.h. dass sie sagen, welche Räume sie brauchen, welche Nutzung dieses Räume haben sollen und welche Ausstattung diese haben müssen. Dann gibt es meist schon einen Standort oder ein Gebäude, in dem der Bedarf realisiert werden soll; oder mehrere Grundstücke stehen zu Auswahl und müssen auf Eignung überprüft werden; dazu werden vom Nutzer / Bauherrn Eignungskriterien entwickelt.
In diesem Fall scheint die Lage anders zu sein: Es gibt eine Idee für ein Gebäude, doch die Nutzung und die Standortkriterien sind kaum ausformuliert. Um die Transparenz der Planung herzustellen haben wir an Hand einer Magistratsvorlage von OB Hilgen vom 24.4.17 das Programm extrahiert.
..................................................................................................................................................................................... Vortrag und Diskussion im KAZ am 6.7.17
Stadtbaurat Nolda: Die Einzelheiten seines Vortrages stehen im Programm (LINK weiter oben).
Er entschuldigte sich, dass dies alles so undemokratisch gelaufen sei ("demokratie-schädlich"), aber es gäbe Zeitdruck.
Das Projekt sei schon lange diskutiert worden.
Bisher waren die Mehrheitsverhältnisse in Kassel schwierig, politisch sei dies jetzt die letzte Möglichkeit (OB Hilgen geht, im September sind Wahlen). Durch die Finanzierungszusage des Bundes müsse jetzt alles ganz schnell gehen. 2018 Wettbewerb, 2019 Baubeginn, 2021 fertig.
Bei der Diskussion ging es vor allem um das Konzept. Es gab große Kritik: So könne das Institut auf keinen Fall Erfolg haben, nie ein Leibnizinstitut werden; der Bezug zur Kunst fehle, zur Kunsthochschule. Man könne kein Gebäude bauen, ohne ein schlüssiges Konzept zu haben.
Fazit war: Man solle die Zeit jetzt nutzen, ein Konzept auszuarbeiten. Faktisch ist OB Hilgen bis 27.7. im Amt, aber derzeit im Urlaub. Am 28.8. gäbe es dann eine/n neue/n Kulturdezerenten/in, der/ die das machen müsse. Die Stadt ist Bauherr und muss sich kümmern.
Falsche Reihenfolge: Erst Gebäude, dann das Nutzungsprogramm.
Kassel den 6.7.17
[Texte zur documenta (13)]
Documenta (13) ohne Architekten?
zum Beitrag im Architektenblatt 09/2012 (Hessen)
Kaum eine documenta hat sich so sehr mit Architektur beschäftigt, wie diese. Kaum ein Kurator hat sich so intensiv mit der Geschichte der Stadt Kassel und ihrer Architektur beschäftigt und mit der aktuellen Ausstellung auf sie Bezug genommen. Noch nie waren so viele Gebäude der Stadt in die documenta miteinbezogen. Orte wie z.B. das Kaskade-Kino, das seit dem Jahr 2000 leer stand (erbaut von Paul Bode 1952), der Ballsaal des alten Hotel Hessenland (ebenfalls von Paul Bode) und das alte Hugenottenhaus, wurden zu Schauplätzen der Kunst, waren sowohl der Rahmen als auch Thema der documenta (13). Selbst das Fridericianum konnte durch die Leere und den frischen Wind als altbekannte Hülle der Kunst neu betrachtet werden. Gebäude aber auch Landschaftsräume, wie die Karlsaue wurden zu unerwartet neuen Orten der Kunst, wie z.B. das alte Schwanenhaus, das nach langem Leerstand zu neuer Aufmerksamkeit kam. Vergessene Räume, vergessene Orte der Stadt wurden zurück ins allgemeine Blickfeld gerückt und erhielten eine neue Chance der Wertschätzung. Wir vermissen sie nicht, die großen (Star)Architekten,
weil sie sich bisher nur selten mit der Stadt Kassel und ihren urbanen Räumen beschäftigt haben.
Sylvia Stöbe, Kassel den 5.9.2012
Erste Impressionen zur documenta (13)
Frischer Wind – die große Leere
Ein frischer Wind geht durch die Räume des Fridericianums. Die Räume sind leer. Leerer als je zuvor. Die hellen Fenster stehen offen und die Türen auch. Der frische Wind wird zum Sturm, der alle Kunst herausgeweht hat. Das Museum ist kein Museum mehr, denn ein Museum ist geschlossen, klimatisiert und ohne natürliches Licht.
„Ryan Gander heißt der Windmacher, ein britischer Künstler, der im Hinterhof des Museums
große Gebläse installieren ließ. Er träumt von einer Kunst, die nicht zu sehen, nicht
zu greifen ist und die doch machtvoll an ihm saugt. Die ihn erfasst und behutsam mit sich trägt.“
(Hanno Rauterberg, die ZEIT 6.6.2012)
Sylvia Stöbe, Kassel den 7.6.2012
Weitere Impressionen zur documenta (13)
Räume sind Menschen – Kino Kaskade
Das Kaskade-Kino ist noch verschlossen. Eine Treppe führt in die erste Etage; von dort könnte man jetzt auf die Empore des Kinos, doch auch hier ist die Tür verschlossen. Kinositze mit Blick auf den Königsplatz.
12:00 Uhr – wir dürfen eintreten. Der Boden, mit Teppich beklebt, ist uneben; eine Beule zieht sich am rechten Rand entlang der Wand. Auch beim Sitzen merkt man es: der Boden ist schief. Der Vorhang geht auf, eine kleine Bühne biete Raum für eine Performance, wo einstmals die Wasserspiele stattfanden. Das Kino wird zum Theater; es ist funktionsfähig, es möchte uns zeigen, dass es noch etwas leisten kann, es möchte noch zu etwas nütze sein. Der Eingang über das ehemalige Cafe, zwei Notausgänge, einen über die Bühne, oben die Toiletten, draußen auf dem Hof: Wohnwagen als Künstlerkabinen.
Räume wie Menschen: Hintereinander kommen 11 Menschen auf die Bühne, sie stehen eine Minute ohne etwas zu sagen einfach nur da. Dann, beim nächsten Durchlauf, sagen dieselben 11 Menschen ihren Namen, ihr Alter und was sie von Beruf sind. Alle sagen, sie seien Schauspieler. Sie sprechen Schweizer Dialekt. Alle haben ein Handicap, das sie im nächsten Durchgang nennen: Lernschwäche, Down-Syndrom, Mongolismus. Der Künstler, der dies initiiert hat, heißt Jérome Bel. Er ist nicht anwesend, ein Übersetzer gibt die Kommandos. Sieben von den Schauspielern führen einen Tanz auf, zu einer selbst gewählten Musik, mit einer eigenen Choreographie. Wir sehen einen Tanz mit einem Tuch (Schleiertanz), einen wilden Derwischtanz, einen Tanz á la Michael Jackson „They dont care about us“. Es sind behinderte Menschen, die gesehen, die gehört werden wollen; manche scheinen fast verzweifelt, andere eher lustig. Wie sie das Ganze selbst gefunden hätten, werden sie gefragt. Fühlten sie sich wie in einem Zirkus vorgeführt oder hat es ihnen einfach Spaß gemacht?
Menschen wie Räume, eher nutzlos, und doch wollen sie mit uns etwas machen, etwas nütze sein.
Ich frage das Kino: Was willst Du sein? Und das Kino antwortet: „Ich möchte in Kino sein, ein Theaterraum,
ein Vortragssaal aber keine Buchhandlung und kein Klamotten- oder Schuhladen“. Aber: „They dont care about us“.
Jérôme Bel Choreograph. Er lebt in Paris und arbeitet weltweit.
Für die RuhrTriennale konzipierte er das Disabled Theater.
Jérôme Bel arbeitet hier mit geistig behinderten Schauspielerinnen und Schauspielern des
Theater HORA aus Zürich. Das Theater HORA, 1993 in Zürich gegründet, fördert die künstlerische
Entwicklung von Menschen mit einer geistigen Behinderung.
Die Mitglieder des Ensembles sind zwischen 18 und 51 Jahre alt.
Einige von ihnen arbeiten bereits seit vielen Jahren als Schauspielerinnen und Schauspieler. http://www.ruhrtriennale.de/de/programm/produktionen/disabled-theater/
Sylvia Stöbe, Kassel den 7.6.2012
Impressionen zur documenta (13)
Raum-erfahrung mit allen Sinnen
Was machte die Malerei als der Fotoapparat erfunden wurde? Was macht die Kunst,
wenn alle Bilder demnächst im Internet verfügbar sind? Sie verbündet sich mit dem Raum, dem Licht und der Musik.
Eine Glaswand hindert am Eintritt. Man hört Musik, im 1.OG wird live gespielt.
Die ausgestellten Objekte sind für mich eher zweitrangig. Es ist der Raum, der auf mich wirkt.
Kleine Räume, beschallt mit wunderbarer Musik; große Räume, dunkle Räume, helle Räume.
Köpfe aus Holz, auf Stahlregalen, die den Raum verstellen, Köpfe verletzt wie durch Granatsplitter.
Eine Videoinstallation: Links das Fridericianum vor der Ausstellung; rechts ein zerstörtes Gebäude.
Schutt, Steine, alles kaputt. So sah Kassel nach 1943 auch aus.
Eingang durch das Tor geht man erst in den lauschigen Hof, von dort durch einen dunklen Gang,
alles ist dunkel, man sieht gar nichts, hört nur Töne. Rechts hinein und dann die Treppen empor:
Ein altes Haus im Stadium der Renovierung, alte Badezimmer, völlig verdreckt von Bauschutt,
eine kleine Werkstatt für Holz, eine Küche, mehrere Schlafzimmer, überall darf man hineinblicken.
Wer ist hier Besucher? Wer lebt hier? Da liegt einer und grüßt, als ob man hier zu Besuch wäre.
Verwirrung, gewollte Verwirrung. Projektionen: jemand singt, jemand musiziert.
Rotierende Glaszylinder, gekreuzt mit Projektionen und Tönen.
Ein künstlicher Höhlengang führt uns einen provisorischen Kinosaal.
Kleine Räume mit Büchern und / oder kleinen Vasen.
Eine Halle mit einer künstlichen Schneidereifabrik.
Projektionen: Zwei Frauen zerlegen ein Zimmer. Rockmusik.
Am Ende ein Cafe, ein wunderbarer Ausblick auf zugewachsene Gleise und kaputte, halb zerfallene Gebäude.
„Die dOCUMENTA (13) vollzieht (…) eine räumliche oder, genauer gesagt, »standortbezogene« Wende, indem sie die Bedeutung eines physischen Ortes betont, gleichzeitig jedoch auf die Verlagerung und Schaffung anderer und partieller Perspektiven abzielt – eine Erforschung von Mikrogeschichten in wechselnden Maßstäben, die die lokale Geschichte und Wirklichkeit eines Ortes mit der Welt verbinden.“ (http://d13.documenta.de/de/#de)
Sylvia Stöbe, Kassel den 8.6.2012
Impressionen zur documenta (13)
Orte und Bauten der Documenta (13)
Immer mehr Künstler, immer mehr Besucher. Jeder Kurator muss von neuem anfangen und Orte suchen, wo er seine Kunst aufstellen kann. Dazu kommen andere Funktionen: Wo ist die Hauptkasse? Wo kann man Mäntel und Taschen abgeben? Wo den Katalog kaufen oder einen Cafe trinken? Da wurden in der Vergangenheit eine alte Brauerei in den Dienst genommen oder provisorische Riesenflachbauten auf die Karlswiese gestellt.
Anders die Kuratorin der documenta(13): Sie hat sich mit der Stadt Kassel, mit ihrer Geschichte und mit ihren Bauten beschäftigt. Ihre Mitarbeiter schwärmten aus, um alles über diese Stadt zu erfahren. Und da war die Lösung: Wir zeigen dem documenta-Publikum diese Stadt, wo doch bisher jeder Besucher vor lauter Kunstbetrachtung gar nicht dazu kam, sich die Stadt überhaupt anzuschauen. Jeder hetzte von einem Ausstellungsort zum nächsten, aber die Stadt Kassel selbst hat keiner gesehen. Um die Kunst zu finden, muss diesmal jeder documenta-Besucher die Stadt erkunden - und das ist nicht leicht und wird auch nicht leicht gemacht.
Das Ganze hat System: Man soll sich verirren -- Getting lost -- Was ist Kunst? Ist das hier schon Kunst oder doch nur ein Abfallbehälter? Die Verwirrung wirkt. Die Besucher schauen sich hilflos um. Wo geht es nach hier oder nach dort? Wo finde ich die Kunst?
Orte der Kasseler Stadtgeschichte kommen in den Focus: Das alte Kino Kaskade, seit 2000 geschlossen,
wird Schauplatz einer Performance. Das alte Hugenottenhaus, das seit Jahrzehnten leer steht,
wird nun bespielt, ja sogar bewohnt. Das alte Ständehaus, eigentlich ein Highlight der Stadtgeschichte,
aber wer kam bisher hier schon rein? Frisch renoviert, wird es nun zum edlen Treffpunkt des Diskurses.
Der alte Hauptbahnhof, längst abgehängt vom Warenverkehr, nur noch Lagerplatz für einige Händler,
früher zentraler Ort der Verschickung, wird zum poetischen Raum; verwachsene Gleise, halb verfallene Gebäude,
verträumte Industrieromantik pur. Und es erstaunt, mit wie wenig man einen Ort zum Anstoß einer Kunsterfahrung machen kann. Bei jeder Bank, die halb verrückt hier herumsteht, frage ich mich, ob auch dies ein Kunstobjekt sein könnte. Erstaunliche Töne hallen über die alten Bahngleise. Übt da jemand in einem dieser leer stehenden Gebäude? Nein, es ist Kunst.