Kassel der 50er Jahre - 2 (08.08.2004)
„Die Fünfziger Jahre in Kassel“
Projektvorschlag über Architektur und Städtebau der 50er Jahre
in Kassel
Verfasser: Sylvia Stöbe und Michael Krauss, Architektursalon Kassel
Der im Folgenden skizzierte Projektvorschlag steht im Zusammenhang mit der
aktuellen Bewerbung der Stadt Kassel als Kulturhauptstadt für das Jahr
2010 und lenkt die Aufmerksamkeit auf den für die Kasseler Wiederaufbauperiode
bedeutsamen Zeitabschnitt der Fünfziger Jahre, in dem wichtige Entscheidungen
über Stadtstruktur und Stadtbild gefällt worden sind.
A Einige Thesen und Fragen zum Thema:
1 In einer Zeit, in der vielerorts für die Rekonstruktion
der historischen Städte geworben wird, erscheint es angebracht, auch
den abgeschlossenen Zeitabschnitt der Fünfziger Jahre stärker ins
Blickfeld zu rücken, besonders in einer Stadt wie Kassel, die über
einen beachtlichen Bestand an Gebäuden aus jener Zeit verfügt.
2 Historisch wird die Epoche der 50er Jahre in der Regel
als die aktive Zeit des Wiederaufbaus der zerstörten deutschen Städte
und Industrieanlagen und damit des beginnenden „Wirtschaftswunders“ eingeordnet.
3 Erst relativ spät wurde dieses historische Bild
erweitert um die Einsicht, dass aus der Zeit des Nationalsozialismus neben
einigen „belasteten“ Personen auch manche resistente Ideologie übrig
geblieben war, die die sich neu entwickelnde Konzeption der Nachkriegsgesellschaft
mit beeinflussen wollte.
4 Im Besonderen zeigt sich das in der Architektur und im
Städtebau: Wie von Werner Durth im einzelnen für die Nachkriegszeit
dokumentiert wurde, bestehen hier nachweisbare personelle und auch inhaltliche
Kontinuitätslinien, ausgehend von den 30er über die 40er bis zu
den 50er Jahren.
5 Auf der anderen Seite sind die alsbald nach Kriegsende
mit dem Aufbau demokratischer Strukturen einsetzenden Aktivitäten zu
sehen, die aus der Zeit vor 1933 stammenden Konzepte der Moderne nicht nur
dem allgemeinen Bewußtsein wieder zugänglich zu machen, sondern
als wichtige Ausgangspunkte für die anstehenden neuen Pläne und
Projekte produktiv werden zu lassen.
6 Einigermaßen widersprüchlich erscheint dem
Betrachter das Feld der Ziele, Einflußgrößen und Programme
beim Planen und Bauen in der Bundesrepublik der 50er Jahre:
a. Im Vordergrund stehen beim Wiederaufbau zunächst
Mittelknappheit und Zeitdruck, diese überlagern die Frage nach den Planungsalternativen
b. Die regionale Wirtschaftsstruktur und die Bau- und Mittelprogramme
müssen sich den neuen politischen Grenzen anpassen (Bsp. „Zonenrandgebiete“)
c. Handlungsebenen und Verfahren sind dezentral bestimmt
(Städte, Länder)
d. Musterprojekte werden nur ausnahmsweise realisiert und
bleiben auch dann von eingeschränkter Wirkung (Bsp. Interbau Berlin
1957)
e. Traditionelle Struktur der Bauwirtschaft hemmt Anwendung
von Verfahren des industrialisierten Bauens; daneben schreckt auch das negative
Vorbild ostdeutscher bzw. osteuropäischer Typenplanung
f. Der 1933 unterbrochene Diskurs über die Moderne
kommt nur allmählich wieder in Gang (ablesbar an der geringen Beteiligung
deutscher Teilnehmer an internationalen Fachtagungen, wie z.B. CIAM, später
TeamTen)
g. Das Erbe der klassischen Moderne hat im kollektiven
Bewusstsein noch einen nachrangigen Platz – statt an seiner Weiterentwicklung
und Aktualisierung zu arbeiten, scheinen die wenigen insoweit engagierten
Initiativen (wie z.B. die Ulmer Hochschule für Gestaltung) eher an einem
Retromythos interessiert
Bezogen auf das Thema „Architektur der 50er Jahre in Kassel“ ergeben sich
daraus folgende weitere Feststellungen:
So charakteristisch sich das Erscheinungsbild der Architektur
der 50er Jahre an vielen Stellen in Kassel heute auch darbietet, so unsicher
scheint die Einschätzung ihres Stellenwerts im überregionalen und
internationalen Vergleich.
Der vorherrschende Typus unter den Architekturen der
50er Jahre in Kassel stellt eine Mischung dar aus Stilelementen einer „gemäßigten
Moderne“ mit traditionellen Formen sowie dekorativen Zutaten aus dem Formenrepertoire,
das manchmal abwertend dem so genannten „Nierentischstil“ zugeordnet wird.
Der Umstand, dass große Bereiche der Architektur
der 50er Jahre in Kassel bis heute erhalten geblieben sind, dürfte vermutlich
weniger den ihr zuerkannten denkmalwerten Eigenschaften zu danken sein als
vielmehr der seit längerem stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung
der Stadt und der Region.
Gleichwohl stellt sich die Frage, ob nicht das Ensemble
von zahlreichen nahezu geschlossen erhaltenen Baubereichen der Architektur
der 50er Jahre – trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) ihrer im Einzelnen
eher anspruchslosen Formensprache - dennoch einen für die Identitätsbildung
der Stadt wichtigen Faktor darstellen könnte und daher der besonderen
Aufmerksamkeit und Pflege bedarf.
Angesichts der Gefahr, dass aufgrund der Überalterung
der Stadtbevölkerung in Kassel der Wohnungsbestand, der zur Architektur
der 50er Jahre zu rechnen ist, in absehbarer Zeit dem Leerstand oder gar
dem Abriß anheim fallen könnte, sind Maßnahmen zur Erneuerung
dringlich.
Notwendige Maßnahmen zur Erneuerung betreffen vor
allem den Nutzwert der Gebäude, das heißt konkret die Anpassung
der Grundrisse an heutige Bedürfnisse und Standards; daneben ist zu
prüfen, ob nicht auch in bestimmten Fällen Wohnumfeldverbesserungen
erforderlich sind.
B) Zum weiteren Vorgehen:
In der nächsten Phase sollte das Projekt zeitlich parallel auf folgenden
Ebenen vorbereitet und bearbeitet werden
Im Hinblick auf die theoretische Fundierung des
Beitrags zur Kulturhauptstadt sind mit Vorrang zunächst die Grundlagen
des Projekts zu erarbeiten, insbesondere in Bezug auf die historische und
architekturtheoretische Einordnung des Exempels „Wiederaufbau von Kassel“
im Vergleich zu anderen deutschen und europäischen Städten. Dazu
gehört auch die Vorbereitung einer Konferenz.
Daneben könnte auch schon mit vorbereitenden
Arbeiten begonnen werden, die typischen Beispiele der baulichen Substanz
der 50er Jahre, die für eine Präsentation im Rahmen der Kulturhauptstadt
in Frage kommen, zusammen zu stellen und zu dokumentieren. Im Allgemeinen
sollte es darum gehen, möglichst viele Fünfziger-Jahre-Objekte
in Kassel aufzuspüren und deren geschichtlichen Hintergrund in Veröffentlichungen
einer größeren Zahl von Fachleuten und Laien bekannt zu machen.
In diesem Zusammenhang wäre es sinnvoll,
in den nächsten Jahren auch einige studentische Projekte zu initiieren,
die als Unterstützung der weiteren Grundlagenermittlung zum Thema „50er
Jahre in Kassel“ fungieren könnten. Die einzelnen Aufgabenstellungen
dieser Projekte müssten noch präzisiert werden.
Im Einzelnen werden folgende konkrete Arbeitsschritte vorgeschlagen:
o Einrichtung einer Arbeitsgruppe, in der die an
dem Thema „Fünfziger Jahre in Kassel“ interessierten Personen und Gruppen
vertreten sein sollten (Herbst/Winter 2004/05).
o Befragung einer repräsentativen Auswahl von
Bewohnern aus typischen Bauten der Fünfziger Jahre in Kassel nach ihren Wohnerfahrungen und Wohnvorstellungen,
ihren Veränderungswünschen und Identitätsbildern
über die Stadt (2005)
o Ausstellung und öffentliche Diskussion der
Ergebnisse der Befragung, in Verbindung mit dem Begleitprojekt eines Kassel-öffentlichen
Fotowettbewerbs über die Architektur der 50er Jahre (Herbst/Winter 2005/06).
o Internationaler Kongress zum Thema „Kassel und
die Modernität der 50er Jahre - ein Vergleich mit anderen europäischen
Städten“. (Vorbereitung ab 2005, Durchführung 2006 oder 2007).
o Vorbereitung eines Besichtigungsprogramms zur
Architektur der 50er Jahre im Jahr der Kulturhauptstadt Kassel (Vorbild:
Ausstellung 100 Jahre Wohnungsbau in Rotterdam als Beitrag zur Kulturhauptstadt
im Jahr 2001).
C) Einzelheiten
Konferenz: „Wiederaufbau der 50er Jahre“ und „Kassel - Stadt im Grünen“
Als Beitrag zur Kulturhauptstadt im Jahre 2010 soll auf einer Fachkonferenz
die Eigenart des Wiederaufbaus der Stadt Kassel und die Qualität ihrer
Bauten und Ensembles aus den 50er Jahren im Rahmen einer größeren
Fachöffentlichkeit erörtert werden. Diese Konferenz könnte
auch den Effekt haben, dass die Kasseler Öffentlichkeit sich der Besonderheit
dieser Bauten deutlicher bewusst wird. Die Frage stellt sich auch, ob sich
hierüber vielleicht sogar ein neues Identitätsgefühl entwickeln
könnte. Dabei soll diese Konferenz den Fünfziger Jahren nicht kritiklos
huldigen, sondern den Wiederaufbau in Kassel in den überregionalen und
auch internationalen Vergleich stellen. Als Ergebnis der Konferenz soll eine
kritische Würdigung des Wiederaufbaukonzeptes von Kassel erreicht werden.
Hieraus könnten auch Richtlinien für den weiteren Umgang mit dem
Bestand abgeleitet werden. Aufgrund der Ergebnisse dieser Konferenz könnte
man in Kassel in der Lage sein, zukünftig geplante Veränderungen
in der Stadt in einen Gesamtzusammenhang stellen und neue Leitlinien formulieren
zu können.
Die geplante Konferenz sollte zum einen die besondere Situation und Gestaltung
der Stadt Kassel nach dem zweiten Weltkrieg zum Thema haben, zum andern aber
auch Vergleiche zu anderen Städten im In- und Ausland herstellen. Die
Konferenz könnte zur Klärung der Frage beitragen, inwieweit Kassel
als eine Stadt der Moderne bezeichnet werden kann, aber auch darüber
Aufschluss geben, wo die Planung ggfs. auch noch von Gedanken aus der nationalsozialistischen
Ära beeinflusst wurde. Sie könnte die Diskussion um die Vorteile
einer modernen Planungsstrategie weiterführen, aber auch andere in den
letzten Jahren verstärkt diskutierte Alternativen betrachten, wie z.B.
die Strategie der kritischen Rekonstruktion. Von Interesse wären auch
die kritischen Positionen, die bereits zur Zeit des Wiederaufbaus zu den
Leitlinien zur modernen Stadtplanung artikuliert wurden, so etwa von Seiten
des in den 50ern aktiven Verbunds moderner Architekten Team Ten. Von hier
aus lassen sich Bezüge auch zu postmodernen Strategien herstellen. Eine
besondere Aufmerksamkeit sollte auf jeden Fall der Problematik der Verkehrsplanung
bzw. der Mobilität gelten. Generell sollten die wesentlichen Fragen
der Identität unserer Stadt zur Sprache kommen, die im Zusammenhang
zu den genannten Planungsstrategien stehen. Nicht zuletzt sollte es um ein
modernes Bild der Stadt gehen, die - eingebettet in einen wertvollen Landschaftsraum
- zur Identifikation ihrer Bewohner beitragen kann. Vorbilder und Beispiele
sollten einen Vergleich herstellen.
Besichtigungsprogramm 2010
Für die Besucher der Stadt Kassel im Jahre 2010 soll ein spezifisches
Besichtigungsprogramm ausgearbeitet werden. Gezeigt werden sollen typische
50er-Jahre-Stadt-Ensembles, typische 50er-Jahre-Bauten und typische 50er-Jahre-Wohnungseinrichtungen.
Einige exemplarische Wohnungs- und andere Nutzungsbeispiele aus den 50er
Jahren sollen auf den ursprünglichen Stand zurückgebaut, möbliert
und der interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
In Zusammenarbeit mit Karl-Hermann Wegener vom Kasseler Stadtmuseum und dem
50er Jahre Museum in Büdingen sollen von den Eigentümern (Wohnungsbaugesellschaften)
zur Verfügung gestellte Wohnungen auf die Originalausführung zurückgebaut
und original möbliert werden. Ähnliches gilt für Kirchen,
Büros, Hotels, z.B. das Hessenland und Kinos aus den 50er Jahren, z.B.
das Capitol. Darüber hinaus sollen in 50er-Jahre-Kinos spezielle Kinoprogramme
laufen, Filme aus den 50erJahren, vornehmlich diejenigen, die in Kassel auch
ihren Drehort hatten, z.B.
o Immer diese Autofahrer mit Heinz Ehrhardt
o Rosen für den Staatsanwalt
Es werden Stadtrundgänge mit und ohne Führung angeboten. Hierfür
werden Hinweistafeln und Ausschnittrahmen nach dem Vorbild der Boxen (vgl.
Uni-Projekt) aufgestellt, die den Fokus der Betrachtung auf das Objekt lenken
sollen. Die Boxen selbst sind mit dem Risiko der Verschmutzung und Zerstörung
verbunden, deshalb sollten die Boxen durch offene Stahlrahmen á la
„Haus Rucker&CO“ ersetzt werden. In den Wohngebieten
wie z.B. am Pferdemarkt sollten mit kleinstmöglichen Eingriffen in die
Grundrißstruktur die Wohnungen in einen Zustand der Qualitäts-
und Nutzungsverbesserung gebracht werden.
Kontakt: Architektursalon-Kassel,
Sylvia Stöbe und Michael Krauss, Karl-Kaltwasser-Strasse 26, 34121
Kassel, Fon: 0561-9324105, email: symi@architektursalon-kassel.de
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