Utopie 2103
Zum Thema Utopie 2103 soll eine persönliche Sicht gegeben werden, sie soll sich
in der Sache auf den Bereich der Architektur im weitesten Sinne beziehen
und dies wiederum insoweit als von ihr gesellschaftliche Entwicklungen verschiedener
Art bei ihrer planenden Gestaltung der Umwelt für den Menschen Beachtung
finden sollten - für einen an diesem Wissenschaftszweig zwar interessierten,
jedoch in diesem Feld weder ausgebildeten noch tätigen Naturwissenschaftler
ein herausforderndes Unterfangen.
Jede persönliche Utopie, zu einem
definierten Zeitpunkt formuliert, ist neben anderem abhängig vom je
aktuellen Kenntnisstand zur Sache, von der Wahrnehmung durch die Sinne und
der emotionalen und intellektuellen Verarbeitung. Sie ist weiter Ausdruck
der je aktuellen gedanklichen Aktivierung von Hoffnungen und Wünschen,
vorweg genommener Erwartungen und komplexer Schätzung von Wahrscheinlichkeiten
für das Eintreten bestimmter Entwicklungen. Sie hat eine inhaltliche
Dimension, eine zeitliche und eine methodische, sie ist beeinflusst von individuellen
und Gruppenprozessen, und sie ist ständiger Veränderung durch Anpassung
an Entwicklungen in jeder dieser Dimensionen unterworfen.
Abgeleitet aus
Erfahrungen mit fachspezifischen Prognoseinstrumenten im Bereich eigener
fachlicher Expertise erscheint eine Prognose zur vorweg nehmenden Beschreibung
von sich in der Zukunft realisierenden Entwicklungen, zur realisierbaren
Umsetzung von neuen Erkenntnissen und zur Beschreibung von Endpunkten zu
aktuell erkannten Entwicklungen oder eingeleiteten Projekten nur sehr begrenzt
möglich. Dies trifft zu in jeder der genannten Dimensionen: Das Wissen
und das Erkennen durch Individuen oder Gruppen unterliegt zwar fortdauernder
Entwicklung, doch sind die konkreten Orte weder aktuell genügend präzise
bestimmbar, noch sind Veränderungen der Orte vorhersehbar; Veränderungen
sind nicht stetig, sondern verlaufen in Sprüngen mit a priori ungewisser
Sprungweite und Sprungrichtung und hängen von vielen Faktoren mit Bedeutung
für persönliches Erkennen und auf der Interaktion in und mit in
Gruppen stattfindenden dynamischen Prozessen ab.
Wenn es darum geht, eine
Utopie oder Anteile davon als konkrete Teilutopien zu formulieren, die bezogen
auf die Dauer des menschlichen Lebens weit in die Zukunft greifen, stellt
sich die Frage danach, für wen die Utopie, so sie sich realisiert, wirksam
werden kann und, daraus folgend, muss die überlegt werden, welchem Prozess
sie zu unterwerfen ist, um mehr als die beschriebene Individualität
beanspruchen zu können, welcher einer Umsetzung in Realität vorausgehenden
Konsensbildung. Sind zum Beispiel Menschen im letzten Drittel des Lebens
alleine oder als Gruppe geeignet, um in der Zukunft bedeutsame Entwicklungen
zu erkennen und sie zu beeinflussen, wenn es um einen Utopiehorizont von
100 Jahren, also etwa drei Generationen geht.
Ein tatsächlich gewählter
Utopiehorizont sollte einen Zeitraum umfassen, der die Mitgestaltung und
Überprüfung der Realisierung im realen Leben ermöglicht, andernfalls
droht Lebensferne und es fehlt die Möglichkeit, den Weg zur Realisierung
der Utopie adäquat zu verfolgen.
Auf dieser Einleitung aufbauend und
zum Thema zurückführend sollen hier eine Reihe von in mir spontan
aufgetauchte und assoziierte Bilder als skizzierte Vignetten dargestellt
werden.
Mobilitäts-Utopie
Der Traum vieler Menschen für unüberschaubare
Zeiträume der biologischen und gesellschaftlichen Entwicklung war ein
erhöhtes Maß an Mobilität, Wünsche an anderen Orten
zu sein, sie mit vertretbarem Aufwand erreichen zu können, „heute hier,
morgen dort“, die wohnend genutzten Orte zu vermehren, „mein Zuhause ist
dort, wo ich bin, wenn es sein muss, unterwegs“.
Die im Verlauf der letzten
hundert Jahre entwickelten Systeme und Möglichkeiten zur mobilen Lebensführung
umfassen wesentliche Teile der an Schienen gebundenen Verkehrstechnik, praktisch
den gesamten Zeitraum der automobilen Entwicklung und, in jüngerer Zeit
beginnend, den der Luftverkehrsverbindungen.
Ist das durch diese verkehrstechnischen
Systeme mobilisierte Leben, sind die nicht-mobilen Anteile der Lebensführung
durch sonstige Entwicklungen, z. B. durch Raumplanung und Gestaltung von
Verkehrsmitteln und Verkehrsräumen, der Wohn- und Arbeitsräume
in einer Weise unterstützt, dass die Lebensqualität so entscheidend
verbessert ist und die Lebensführung so unterstützt wird, dass
der Preis für den im Betrachtungszeitraum realisierten Mobilitäts-Utopieanteil
angemessen ist? Wäre ein Mensch als Individuum oder eine Menschengruppe
vor hundert Jahren in der Lage gewesen, diese Utopie auch nur einigermaßen
präzise zu formulieren oder vorherzusagen?
Wohn-Technik-Utopie
Betrachte
ich die von mir genutzten Hauptwohnorte, beide von der Lage her betrachtet
und die bisherigen Nutzungen berücksichtigend, vergleichbares bürgerliches
Ambiente repräsentierend, eine vor genau 100 Jahren errichtete großstädtische
„Altbau“-Wohnung und eine vor genau 50 Jahren errichtete in einem staatlichen
Förderprogramm in einer Mittelstadt errichtete „Neubau“-Wohnung, so
sind die Unterschiede frappierend: Gesamtgröße, Wohnungsschnitt,
Zimmergröße, Raumhöhe, Raumschmuck, Fensterfläche, Isolierung,
technische Ausstattung, Nutzungsvielfalt – ohne weitere Details zu beschreiben:
kein Vergleich!
Es ist für mich unvorstellbar, dass die Wohntechnik-Utopie
der Erbauer, Eigner, Erstbewohner dieser so sehr unterschiedlichen, vor 50
und 100 Jahren errichteten Wohnräume auch nur annähernd Vergleichbares
umfasste, dass sie wohl auch nicht vergleichbare, für sie jeweils realisierbare
Vorstellungen verfolgten oder in der Lage gewesen wären , die Richtung
der Entwicklung vorherzusagen, reale Ziele zu formulieren. Vor 100 Jahren
war, soweit sich das heute beurteilen lässt, jedenfalls für einen
zwar kleinen aber gesellschaftliche Entwicklung wesentlich tragenden Teil
der Bevölkerung, diese Utopie eher durch post-aristokratische Attitüde
von Mitgliedern eines aufstrebenden Bürgertums bestimmt, vor 50 Jahren,
nicht zuletzt bedingt durch historische Brüche, eher orientiert am „Über“-Lebensnotwendigen
und bestimmte Funktionen Erfüllenden. Wie viel, welche Wohntechnik braucht
der Mensch, erfüllt menschliche Utopie, genügt menschlichen Ansprüchen?
Ist in diesem Bereich formulierbarer und sich entwickelnder Utopien höhere
Prognosepräzision erreichbar?
Wohnraum-Utopie
Wenn ich die Wohnraumnutzung
als die im statistischen Mittel für ein menschliches Individuum theoretisch
verfügbare und als Quotient aller verfügbarer Wohnflächen
und der Zahl der Wohnbevölkerung errechnete Wohnraumfläche annehme,
und die Veränderung dieser Maßzahl während der letzten 50
Jahre betrachte, dann hat sich diese wohl um einen Faktor 3 vergrößert.
Selbst bei über den längeren, hier geforderten Zeitraum von100
Jahren geforderter Betrachtung und trotz der oben beschriebenen historisch
begründeten partiell eher gegenläufigen Entwicklung mit großen
Wohnraumverlusten und Reduzierung der für Teilbevölkerungen im
Mittel tatsächlich vorhandenen Wohnflächen bleibt auch dafür
eine im Mittel erhebliche und im Mittel wohl den Faktor 3 übersteigende
Vergrößerung. Diese mag einer realen Utopie entsprochen haben.
Doch stellen sich hier z. B. die Fragen, ob Zugewinn als solcher die Utopie
ausreichend beschreibt, ob Vergrößerung ein notwendiger fortdauernder
Prozess ist und wo die Grenzen dieser Art der Wohnraum-Utopie angenommen
werden können, aus ökonomischen Gründen vielleicht müssen?
Zusammenfassend komme ich zum Ergebnis, dass die Beschreibung von Utopien
mit menschlichem Maß nur Utopien umfassen kann, die begrenzte, deutlich
unter dem vorgegebenen Zeitmaß liegende Zeiträume überbrücken
und menschliches Denken, Planen und Handeln nur für begrenzte Zeit bestimmen
sollten. Sie bedürfen immer wieder, in lebensnah festzulegenden Zeitabständen
der Überprüfung auf Fortführung der Realisierung. Ich nenne
diese Utopien Realutopien. Ihre Realisierung bedarf der intensiven, vor Beginn
und während der Umsetzung durchzuführender Kommunikation und der
ständigen Bereitschaft, neue Gesichtspunkte einzubeziehen. Individuell
eigene oder in gesellschaftlichen Gruppen abgestimmte Beurteilungskriterien
sind immer wieder auf Fortbestehen ihrer Bedeutung zu untersuchen und zu
hinterfragen. Die Grenzen des Menschlichen und der menschlichen Möglichkeiten
müssen, den Irrtum einschließend, in jeder Utopie erkennbar werden
und bleiben. Weltanschaulich bestimmte Aspekte sollten nur temporär
und zur Hypothesenbildung zugelassen werden. Den Rest können wir getrost
der Biologie überlassen, die kann es besser, weil sie längere Übung
hat und ein phänomenologisch erkennbar erfolgreiches Methodenspektrum
der schleichenden Veränderung mit Rückkopplung entwickelt hat.
Nach Wernher von Braun, von ihm im Zusammenhang mit seiner Beurteilung der
Möglichkeiten der technischen Entwicklung als Folge der bemannten Raumfahrt
erkannt und formuliert, wird sich in Zukunft die Utopie beeilen müssen,
wenn sie die Realität einholen will. Beeilen wir uns also, beim Entwickeln
von Utopien, solchen der Technik und solchen der Menschlichkeit, diese wenigstens
möglichst realitätsnah zu formulieren und zeitnah in Realität
umzusetzen.
Das Jahr 2103
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