Utopien Gestern - Heute – Morgen



Vor - Vorbemerkung

Heute ist Utopisches eine Wissenschaft geworden. Hochschullehrer – nicht wenige - ernähren sich davon. Die Literatur schwillt an. Kürzlich habe ich eine Aufzählung gefunden, danach wurden 9774 Utopien dingfest gemacht.


Vorbemerkung

Den Bebel - Sozialisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es ja nach Marx verboten, sich Vorstellungen über den Neuen Menschen, die neue Gesellschaft, Stadtentwicklung, Stadt- und Wohnungsbau vor der Revolution zu machen, etwas auszumalen, wie es die sog. Utopischen Sozialisten von Owen über Fourier bis St. Simon und andere gemacht hatten. Marx hat sie stellvertretend über Herrn Proudhon verketzert. Dann – mit dem Revisionismus – war das vorbei. Die Reformbewegung von rechts, von liberal bis links griff Themen der Kurierer des maroden, verbrecherischen Systems des Kapitalismus auf. Daraus entstand 125 Jahre humaner und sozialer Städtebau und Wohnungsbau.

Das ist nun alles vorbei. Die Kämpfe von damals erzählt nun hin und wieder noch ein Roter Großvater, vornehmlich einer der 68-iger Bewegung. Aber – wer will sie noch hören? Inzwischen hat sich die ehemalige Gemeinnützige, die seit 1990 nicht mehr Gemeinnützige Wohnungswirtschaft, den Vorreiter der „Selbsthülfe“ Hoffmann zum Säulenheiligen erkoren. Nun sind die Verluste soweit sozialisiert, dass nichts mehr als Privatisierung auf allen Ebenen übrig bleibt und die Menschen verkommen in Individualismus und Konsum.

Das war noch einmal der Blick aufs Heutige – von wegen Utopien machen.

Wir dürfen – wir sollen – hier als Partyeinlage – die Postmoderne hat uns befreit!

Die industriellen Arbeitsplätze sind nach Südostasien abgewandert. Der Korea Krieg war der Ansatz dazu – heute werden sie auch dort staatlich  hoch subventioniert. Wir denken heute, wir träumen heute - utopisch - für eine post – post - post - industrielle Dienstleistungsgesellschaft nach den letzten erlöschenden Zuckungen des Neoliberalismus und dem an der Börse untergegangenen IT Aktien-Boom.

Hauptteil

Meine Utopievorstellung – wie könnte es anders sein -  eine Negativutopie aus dem Jahre 2103 mit viel Bestandsbeschreibung und ein – ganz – klein - bisschen Utopie: Inzwischen ist die Bevölkerungszahl in dem Landesteil, der einmal Deutschland hieß und mit BRD bezeichnet wurde, um 50% (Bezugsdatum 2003) auf 40 Mio gesunken. Es gab also kein „Volk ohne Raum“ mehr. Das hatten im Laufe des 21. Jahrhunderts selbst die rechten Ultras hinnehmen müssen.

Oswald Matthias Ungers, der berühmte Architekt und dilettierende Stadtplaner und –entwickler hatte schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts von Berlin aus das Leitbild des „Urban Gardens“ proklamiert. Seine Jünger veranstalteten Workshops über die „Urban Villa“ und kleckerten Berlin damit – auf dem Papier – voll und reizten insbesondere die Konservativen mit so viel Untergangsstimmung.

Der Anteil der über 50. Jährigen – also der potentiellen, tatsächlichen Pensions-, Renten- und Sozialhilfeempfänger liegt über 50%. Selbst die Menschen der EU-Osterweiterung – bis an die Mongolei ausgedehnt – bleiben in der „Region Europa“ aus. Aber: von wegen Pensions- und Rentenansprüche, Sozialhilfeansprüche – alles historische Begriffe, unter denen sich kein Lebender mehr etwas vorstellen kann. Es gibt noch ein gerade mal Existenz sicherndes Stützesystem, das man sich wie Lohn und Gehalt - so hieß das mal im frühen 21. Jahrhundert -  vorstellen mag. Man erkämpft es sich durch eine absolute Unterordnung und Preisgabe aller Ansprüche. Menschliche Würde ist auch so ein ausgestorbener Begriff. Die Unterordnung erfolgt innerhalb eines Clans unter einem Oberkämpfer – einen Clanboss, Warlord, Räuberhauptmann, Manager, Eigentümer eines autoritären, asiatischen Wirtschaftsimperiums, Tycoon waren historische Begriffe. Das ganze ist ein wüster Konkurrenz- und Überlebenskampf dieser Clanchefs mit ihren Helfern untereinander. Die immer vorhandenen Oligarchien verloren ihre Masken und zeigten ihr wahres Gesicht. Das Sklaventum, die Leibeigenschaft - einfacher und doppelter Art - waren im frühen 19. Jahrhundert „abgeschafft“ – natürlich nur formell. Sie sind jetzt wieder offenbare „Verhältnisse“.

Die Geschichte, so wie Marx und Rousseau sie sich im 19. Jahrhundert vorgestellt hatten und die anthropologischen und archäologischen Wissenschaftler des 19. Und 20. Jahrhundert erforscht hatten, lief rückwärts – bis zum Übergang zwischen Mensch und Tier - ich will die Tiere nicht beleidigen: also Urmensch und Urmensch. Sowie man das im Jahre 2003 schon in den privatwirtschaftlich geführten amerikanischen Sträflingskolonien studieren konnte. Stellen wir uns den Rückwärtsgang wie einen rückwärts laufenden Film vor und beziehen dabei die utopischen Vorstellungen von damals als Real – Potentiale mit ein:

Vorbei kommen wir auf diesem Weg an allen Paradiesen der korrupten Politiker, ideologisierenden oder bestenfalls träumenden Philosophen, vor allem an den selbstherrlichen Religionsstiftern und rabulistisch – narrativen Abenteurern und Literaten.

Dabei stellt sich heraus, dass neben aller Geschichte, die Paradiese, die harmonischen Gartenreiche (UNESCO – geschützt), durch die Zeitmaschinenreise rückwärts von

-    Kapitän Cooks und seinen Matrosenparadiesen auf Haiti
-    Robinson Crusoe
-    der sechsten Phase der wunderbaren Limonade des Fourier
-    des Neuatlantis von Bacon
-    des Sonnenstaates des Campanella
-    den Utopien des Lordkanzlers Thomas Morus
-    der Hurries in den Gärten des Koran
-    der Urgemeinschaften des Neuen Testaments
-    des Paradieses des Alten Testamentes
-    den Hesperiden Inseln, den Eleusischen Feldern und der Griechen
-    und dem Atlantis des Platon – auch ein Grieche
-    vor allem den im 19. und 20. Jahrhundert so geliebten
     Vorstellungen des Bildungsbürgertums, so geliebten Vergil - Arkadien
-    und viele andere mehr
     nichts wirklich taugten.

Die Wirklichkeit hatte alle amerikanischen, japanischen und sonstigen Horrorfilme überschritten – obwohl das zu Beginn des 21. Jahrhunderts kaum noch möglich schien.

Die Welt von 2103 war einfach furchtbar – „die Hölle“ – auch wieder so ein netter altmodischer Begriff. Die Menschen vegetierten dahin , ständig in Angst, selbst brutalisiert bis zum Äußersten, ohne persönliche Identität , nur noch Clan - Identität.


Schluß und kleine Utopie

Sie hausten, wie sie immer gehaust hatten.
Sie bekamen Kinder - mit und ohne „Liebe“.
Nur mit dem hoffnungsvollem „Bäumchen pflanzen“ war es vorbei.
Alles war synthetisch und fast alles virtuell.
Und wenn man nicht rum muffte, grunzte oder brüllte, sprachen alle Englisch.
Das Hoffnungsvolle: das Schisma der Kirchen, die Kultur- und Religionskämpfe gab es nicht mehr.

Ein Lichtblick: ein sündefreies Leben war ausgebrochen – durch Vergessen.

Und wie es immer kommt, in allen diesen Geschichten: auf dunklen Wegen gelingt es einem liebenden Paar, das Alphabet neu zu lernen und sie lernen wieder Leben – und später lesen sie die Romane von Henry Miller und werden wieder Menschen.

Auf dem Wege durch das Leben kommen sie am Baum der Erkenntnis vorbei – sie machen einen großen Bogen um ihn. Sie misstrauen dem „Wort“ und dem „Geist“ und all den Geistigkeiten, all den Spitzfindigkeiten, die sich daraus ergeben, den Unterscheidungen und Differenzierungen, den Streitigkeiten und den sich hieraus ergebenden Auseinandersetzungen und Kriegen.

Sie bleiben viel zu Hause.


Rede vom 12.07.03
zum einjährigen Bestehen des Architektursalon Kassel




Das Jahr 2103