Vision 2103

Ein  Dialog  



A...:
Jetzt
Jetzt jetzt jetzt
Jetzt jetzt jetzt jetzt
Jetzt jetzt
Jetzt jetzt jetzt

L...:
Was gibt das?

A: Jetzt jetzt jetzt jetzt
Jetzt
Jetzt jetzt jetzt
Jetzt jetzt
Jetzt.

L: Und?

A: Ich arbeite an unserer VISION 2103 für das Architektursalonfest.

L: Und was soll das 'jetzt jetzt'?

A: Ein Gedicht von Max Bense(1), das ich memoriert habe.

L: Das war wohl sehr schwer, aber wozu das?

A: Mich nach einer Vision für die Zukunft zu fragen, ist, wie wenn man von einem Esel wissen wollte, was er morgen fressen möchte.

L: Wieso?

A: Ich habe in meinem Leben 3 Science-Fiction-Bücher gelesen, zwei mit 15 und dann das schmale, witzige rororo-Bändchen von Szilard(2).

L: Ich überhaupt keines, das hat mich nie interessiert.

A: Eben. Also verstehst Du meine Überforderung. Ich habe zudem einen Satz gefunden bei Nils Bor, dem Physiker: 'Man hüte sich vor Voraussagen, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.'

L: Darf ich lachen?

A: Ich bitte sehr darum.
Aber ich habe auch bei Montaigne in den Essais nachgelesen und der schreibt mir aus der Seele.(3)

Gott hüllt, was künftig uns geschieht,
in dichte Finsternis und lacht,
sobald er einen Menschen sieht,
der mehr als recht sich Sorge macht!

Denn glücklich und ein freier Mann,
ist der allein, der jeden Tag
"Ich hab' gelebt"; sich sagen kann,
"was immer morgen kommen mag:
ob Sonnenschein, ob Donnerschlag!"

Am Heute lass' die Seele sich erfreu'n
doch alles Grübeln übers morgen scheu'n!

L: Das wolltest Du mit dem Bense Gedicht 'Jetzt' deutlich machen. Aber Montaigne und Bense sind nicht die einzigen Philosophen, die nur der Gegenwart Gestaltungsmöglichkeiten zugestehen.

A: Eben. Auch ich denke, die Gegenwart gilt es zu beackern, die Vergangenheit ist passé, die Zukunft ist mir zu ungewiss.

L: Und das sagst Du als Lehrender für Planungstheorie, die Vertrauen in die Gültigkeit der Vorwegnahme zukünftiger Handlungen entwickeln helfen soll. Der Planer agiert doch nur in zukünftigen Zuständen!

A: Pssst, nicht so laut. Es gibt solche Widersprüche bei Personen.

L: Also hast Du überhaupt keine Idee, was für ein Zukunftsszenario Du entwickeln willst?

A: Nein.

L: Denk doch mal nach: unsere Welt und Architektur im weitesten Sinne im Jahre 2103.

A: Leeres weißes Feld.

L: Schau doch mal, die Solarautos!

A: Welche Solarautos?

L: Erinnere Dich, in den 1990ern hieß es, Erdöl reicht noch 50 Jahre, seit 2050 gibt es keines mehr. Denk doch nur an den Beginn der großen Verteilungskämpfe um die Weltressourcen unter George W. Bush ...

A: Gibt es die USA noch?

L: ... Europa hat riesige Anstrengungen gemacht, den Einsatz von Ersatzenergien technologisch möglich  zu machen.

A: Ah.
L: Das Heizproblem schien erst unlösbar: seit 30 Jahren keine Kohle mehr und die Ausläufer der Chemie als Konkurrenz. Der Förster ist der angesehenste Beruf, noch vor den Ingenieuren.

A: Wieso der Förster?

L: Es gibt immer noch Prozesse, die 'offenes Feuer' erfordern, und dazu stellt die nachhaltige Forstwirtschaft notwendige Ressourcen zur Verfügung.

A: Das konkurriert doch mit der Landwirtschaftlichen Fläche.

L: Genau, daher die entwickelte Intelligenz der Förster. Die schon fast völlig brachgefallenen Flächen sind alle wieder kultiviert, das letzte Fleckchen wird ausgenutzt, aber eben extensiv und andersartig: Obst- und Gemüsehöfe.

A: Eine Obstbau- und Gartenbaulandschaft und keine Agrarwüsten mehr? Ein völlig anderes Landschaftserlebnis!

L: Der Fleischkonsum, der die größte Ressourcenzerstörung zur Folge hatte, ist verschwunden, das führt zu wichtigen Veränderungen in der Landschaftsstruktur, personalintensiv, dezentral, heiter und blühend wie die Kirschbäume in Witzenhausen im Frühling.

A: Aber S... und M... wollen doch was über Architektur und Stadt wissen.

L: Na, da sind doch die stärksten Veränderungen zu verzeichnen. Kein Gas seit 70 Jahren, kein Erdöl seit 50 Jahren, keine Kohle seit 30 Jahren, da konnte man doch so nicht weiterbauen: zentralistisch, großsprecherisch, monumental und auch zersiedlerisch: 'Postfossile Architektur' wurde allenthalben kultiviert. Neulich hat die Kammerpräsidentin der Architektenkammer Nordhessen, Frau ...

A: Wie, es gibt immer noch eine Architektenkammer?

L: ... vorgeschlagen, dass man wieder das Wort Architektur verwendet, das Epitheton 'postfossil' sei selbstverständlich und würde auch niemand mehr verstehen. Die ganze Zersiedelung mit Einfamilienhäuschen hörte auf, die Häuser rückten zusammen, verdichtet, von üppigen Anpflanzungen überwuchert. Sonnenenergienutzung allenthalben, und wenn es ganz kalt wird, genügt in den Nullenergiehäuschen ein Kerzenabend.

A: Dann gibt es auch keine RWEs, VIAGs und Eons mehr?

L: Nein, Globalisierung und den ganzen Quatsch kennt heute niemand mehr. Stattdessen haben wir kleine, autonome Einheiten in einer stark vernetzten Struktur.

A: Ein 10-Millionen-Dächer-Programm also?

L: Natürlich, aber eben lustig, weil Menschen Verantwortung für sich und ihre Siedlung übernehmen konnten. Die Dokumenta Urbana war eine sehr frühe Vision.

A: Und der Verkehr?
L: Die Zentralisation der Produktion konnte so nicht aufrecht erhalten werden, also haben sich allenthalben wieder kleinere Einheiten gebildet, sodass viel unnötiger Verkehr entfallen ist. Energie auf hohem Niveau - Windkraft und Wasserkraft - fließt in intelligente Verkehrssysteme.

A: Und der Flugverkehr?

L: Hättest Du nicht Lust, auch mal selber was zu erfinden?

A: Nein. Jetzt, Jetzt, jetzt.

L: Dann denk doch mal an den Hinweis von Le Roy auf die menschliche Energie.

A: Ach so, ja, der baut noch immer an seiner Ökokathedrale: was kann ein Mensch leisten. Der muss doch über 80 sein. Aber die Idee war gut: 3,6 Mrd. Menschen, lassen wir Opas und Säuglinge weg, 2 Mrd. Menschen erbringen eine Dauerleistung von 200 Watt, macht 4 mal 10 hoch 11 Watt, das sind einige Gigas oder Teras, das umzurechnen habe ich noch nie auswendig gekonnt.

L: Das müsste jetzt Dein Pimpillionen-Häfele(4) mit seinem 'Schnellen-Brüter-Wahn' ausrechnen.

A: Der ist doch nur noch eine historische Lachnummer, falls ihn überhaupt noch jemand kennt.

L: Willst Du noch was von der Medizin wissen?

A: Ja klar, was gibt's da?

L: Hochspezialisierte und fähige Unfall- und Notfall-Medizin, die ganzen Krankenhäuser sind umfunktioniert in Gesundheitshäuser, weil die Zivilisationskrankheiten durch das Rohessen verschwunden sind, und der Rest wird energetisch geheilt. Lebensnotwendige pharmazeutische Produkte bedarf es nur noch ganz wenige. Durch die allgemeine Entschleunigung haben die verkehrsbedingten Unfälle sowieso radikal abgenommen.
Aber jetzt reicht's doch für eine Vision 2103, oder nicht?

A: Doch, prima, wirklich, danke, das war gar nicht so schwer.

L: Sag ich doch.

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[1]  Max Bense: Eine Quelle habe ich bis jetzt nicht gefunden. Das Gedicht hat Georg Bense zu einem Kurzfilm inspiriert (siehe Google: <Bense>und<jetzt>. Der angegebene Text stammt aus meiner Erinnerung.

[2]  Leo Szilard: Die Stimme der Delphine, Reinbek 1963

[3]  Michel de Montaigne, Essais, Frankfurt am Main 1998, Erstes Buch, 11 Zukunftsdeutungen, S. 25

[4] Klaus Häfele, Charismatischer Verkämpfer der Schnellen-Brüter-Technologie. Nachdem seine Professur von Lothar Späths Gnaden an der Universität Stuttgart dank Horst Rittels intensiver Information scheiterte, wurde er blitzschnell Direktor der Kernforschungsanlage Jülich.

Die 4 mal 10 hoch 11 Watt Dauerleistung sind 0,4 Terawatt.




Das Jahr 2103