6.12.2002
Protokoll
des 2. Gesprächsabends im Architektursalon am 6.12.2002
Thema: "Neuer Stadtteil Kirchsteigfeld in Potsdam"
Richard Röhrbein (Stadtbaudirektor a.D. Potsdam)
Christian Kopetzki (Professor für Stadtplanung, Universität Kassel)
Richard Röhrbein begann seinen Vortrag über den neuen Stadtteil
"Kirchsteigfeld" in Potsdam mit der Bemerkung, manche Kritiker würden
dieses Viertel als "Schlumpfstadt" bezeichnen, während Gutachten festgestellt
hätten, dass die Wohnzufriedenheit hier ausgesprochen hoch sei. Der
Leerstand liegt heute bei nur 3%. (Üblich sind in Ostdeutschland jetzt
16%). Darüber hinaus ist das Kirchsteigfeld eines der meist besuchten
Wohnquartiere nach der Wende: Es hat sich ein regelrechter Architekturtourismus
entwickelt.
Röhrbein erläuterte zunächst die Entstehungsgeschichte
und die Rahmenbedingungen für dieses neue Stadtviertel. (Um Wiederholungen
zu vermeiden, verweisen wir auf den Text, den wir an anderer Stelle auf
dieser Homepage veröffentlicht haben.)
Besonderer Anlass dieser Planung war die unerwartete Bedarfssituation,
die nach der Wende deutlich wurde, als 10 000 Haushalte in Potsdam eine
Wohnung suchten. Hierdurch begründete und rechtfertigte sich der Bau
einer größeren Neubausiedlung in Potsdam.
In einem Workshopverfahren, zu dem sechs Architekturbüros eingeladen
waren, wurde der städtebauliche Entwurf von Rob Krier und Christoph
Kohl als Grundlage der weiteren Planung ausgewählt. Das zusammenfassende
Konzept der Landschafts- und Gartengestaltung entwickelte das Büro
Cornelia Müller und Jan Wehberg. Bauträger war die Firma Groth
und Graalfs aus Berlin. In einer sehr kurzen Planungs- und Bauzeit von
1990/91 bis 1996 wurden in einer überwiegend viergeschossigen Bauweise
ca. 2500 Wohnungen für rund 5000 Bewohner erstellt. Dies war nur möglich,
weil innerhalb einer kurzen Zeitspanne alle wesentlichen Entscheidungen
zur Planung und Realisierung gefasst werden konnten. Neben den Wohnungen
wurden auch Infrastruktureinrichtungen - z.B. Kindertagestätten, Schulen,
Versorgungs- und Dienstleistungseinrichtungen - geschaffen.
Der Planung lag vor allem auch das Ziel zugrunde, Monotonie zu verhindern;
das sollte dadurch erreicht werden, dass grundsätzlich jedes benachbarte
Haus von einem anderen Architekten entworfen wurde, also stets für
einen Wechsel in der Reihe gesorgt war. Eine differenzierte Farbgestaltung
gliedert einerseits zusammenhängende stadträumliche Bereiche und
schafft darüber hinaus Identifizierbarkeit. Besonderer Wert wurde auf
das Außenraumkonzept gelegt: Die im städtebaulichen Konzept festgelegten
Stadträume werden durch eine qualitätvolle Landschafts- und Gartengestaltung
aufgewertet. Die Stellplätze für PKW sind zu 50% im Straßenraum
und zu 50% unter und an den Häusern angeordnet.
Nach der Einführung von Richard Röhrbein stellte Christian Kopetzki
Fragen:
· War es gerechtfertigt, diesem Aussenbereich der Stadt Potsdam
eine deutlich innerstädtische Bautypologie zu geben?
· Wie rechtfertigt sich eine solche Großplanung? Wären
mehrere kleinere Maßnahmen nicht besser gewesen?
· Wären andere Entwürfe mit besserer Grundrissgestaltung
und Besonnung der Wohnung nicht vorzuziehen gewesen?
· Verschärft das Angebot dieses Viertels nicht noch zusätzlich
den Leerstand in den benachbarten Plattenbauten von Drewitz?
· Was waren die Gründe für das Scheitern der angestrebten
Mischung von Wohnen und Gewerbe?
· Wie steht diese Planung in Zusammenhang zu den Weltkulturerbe-Bereichen
in Potsdam?
· Könnte es sein, dass sich durch diese Orientierung in Potsdam
insgesamt eine Haltung von städtebaulicher Antimoderne herausgebildet
hat?
· Wie kann dieses Quartier würdig altern?
· Wird dieser Stadtteil im Besitz des Bauträgers bleiben? Sollten
die Häuser nicht einzeln verkauft werden, bliebe die Individualität
der Häuser wohl nur Schein.
· Könnte der Stadtteil infolge weiterer Abwanderung ins Einfamilienhaus
längerfristig zu einem sozialen Brennpunkt im postmodernen Design werden?
Die Antworten von Richard Röhrbein sowie auch die Diskussion mit den
Gesprächsteilnehmern würdigten die kritischen Fragen und stellten
noch einmal die Besonderheit der Planung heraus, speziell die damalige
hohe Wohnungsnachfrage und die daraufhin einsetzende schnelle Realisierung.
Die günstige Lage zur Potsdamer Innenstadt, zum Potsdamer Umland und
zu Berlin sowie wohnfunktionale und identifikatorische Momente bieten Chancen
für eine längerfristige nachhaltige Stabilität des städtebaulichen
Ansatzes. Der gelegentlich vordergründig wahrgenommenen Stilistik
steht die Bewertung der Nutzer gegenüber, für die sich die strukturellen
Qualitäten zu bewähren scheinen. Es gab unter den im workshop
konkurrierenden Alternativen durchaus "normalere" und verallgemeinerbare
Lösungen. Doch haben die meist aus den Plattensiedlungen hierher gezogenen
Bewohner das ausgewählte Konzept offensichtlich gern angenommen. Zum
ersten Mal konnte man sich an seinem Wohngebiet erfreuen und musste sich
nicht nur versorgt fühlen.
Vielleicht wird das Kirchsteigfeld später einmal als ein Beispiel
dafür beachtet werden, wie die „Vor-IBA-Ansätze“ der späten
70er Jahre in Berlin (z.B. Ritterstraße in Kreuzberg) hier auf einem
großen Grundstück in einer Differenzierung nach Einzelhäusern
und in menschlichem Maßstab realisiert, d.h. in die städtebauliche
Dimension des Quartiers übertragen wurden. Dazu bedurfte es wohl auch
des Engagements eines Bauträgers der freien Wohnungswirtschaft, in
Zusammenarbeit mit der Stadt; die ehemalige gemeinnützige Wohnungswirtschaft
war zu lange in einem „Fürsorgeansatz“ verfangen. Gesamtgestalterische
Ansätze wie in diesem Fall sind ohnehin eher die Ausnahme; angesichts
inzwischen erreichter großer Leerstände sind heute andere städtebauliche
Orientierungen zu erwarten.
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