26.10.2002



Protokoll des 1. Gesprächsabends im Architektursalon am 26.10.02

Thema:„Kulturelle Komplexität und Stadtstruktur"

Einführendes Referat: Detlev Ipsen

Eigentlich sei er zum ersten Mal in einem „Salon“, begann Detlev Ipsen seine Einleitung zu dem Gespräch im Architektursalon-Kassel über „Kulturelle Komplexität und Stadtstruktur“. Er werde also keinen Vortrag halten, sondern thesenartig Ausgangspunkte formulieren für das anschließende Gespräch. Seit einiger Zeit arbeite er an diesem Thema, wobei bereits erste Teile veröffentlicht sind, so z.B. in den Publikationen von Martina Löw (Hg.) „Widersprüche der Moderne...“ und Dirk Matejowski (Hg.) „Metropolen, Laboratorien der Moderne“. Als Stichworte ist zu verweisen auf: „Die offene Stadt“, „Innen/Aussen; Ränder“, „Orte“.

Es geht um das Paradox der modernen Stadt: Einerseits läßt sich eine ständig weiter zunehmende soziale und kulturelle Ausdifferenzierung der städtischen Gesellschaft feststellen, während andererseits der Bedarf an Intergrationsleistung der Stadtbewohner gleichzeitig zunimmt. „Jeder Stadtbewohner lebt in einem feinen Netzwerk arbeitsteiliger Beziehung und wäre für sich alleine genommen kaum überlebensfähig“. Dieses Paradox wird ablesbar an einem entsprechenden Spannungsfeld im Stadtraum, das von Zonen der Liberalität und Toleranz auf der einen bis zu solchen der autoritären Ordnung und Angst auf der anderen Seite reichen kann.

In der Soziologie sind Prognosen über zukünftige Entwicklungen meist unsicher und eher spekulativ. Dies gilt jedoch weniger für die Demographie, die die quantitative Entwicklung der Bevölkerung über einen gewissen Zeitraum mit hinreichender Genauigkeit erfassen kann. So ist davon auszugehen, daß der zahlenmäßige Rückgang der deutschen Bevölkerung in den nächsten 30-40 Jahren eine Größe von etwa 20 Millionen Einwohner erreicht. Soll dieser Rückgang nicht so stark ausfallen, müssen jährlich mindestens 100 000 Menschen (netto) zuwandern.

Als mögliche Folge dieser Entwicklung wird eine Erhöhung kultureller Komplexität dort erwartet, wo sich die Zuwanderer schwerpunktmäßig ansiedeln. Daran knüpft sich die Frage: Wie läßt sich diese kulturelle Komplexität in geistige, materielle und soziale Produktivität überführen? Und die weitere Frage stellt sich: Welche Rolle kommt hierbei der räumlichen Struktur zu? Als These ausgedrückt: Der räumlichen Struktur kommt - neben anderen wichtigen Faktoren - eine bedeutsame Rolle zu bei der Frage, ob kulturelle Komplexität produktiv oder nicht produktiv wirken kann.

Exkurs Kulturtheorie: Kultur kann als System von Deutungen und Bedeutungen verstanden werden. Diese sind nicht statisch, sondern verändern sich, verschwinden und tauchen in neuer Form oder an anderer Stelle wieder auf. Kultur ist Prozess und Struktur zugleich. Dieses Prozesshafte kann auch in dem Bild des Fließens erfaßt werden (panta rhei). Kultur als Fluß, aber auch als Grenze (Flußbett, Ufer). Das Bild des Fließens findet sich auch wieder in der Begriffswelt und Sprache der Stadtplaner: So fließt der Verkehr, die Energie, die Information, das Abwasser u.a.m.

Aus der oben formulierten These folgt: Raumbildungsprozess ist ein kultureller Prozess. Es geht um die semiotische Qualität von Städtebau. Dabei ist auch klar, daß das klassische Bild der europäischen Stadt nicht mehr gilt. Wie sehr sich etwa das Verhältnis von Stadt und Land inzwischen geändert hat, wird deutlich z.B. an einem rückblickenden Vergleich des Rhein-Main-Raumes (Tom Sieverts).

Bei der Betrachtung des Zusammenhangs zwischen städtischem Raum und kultureller Komplexität stößt man auf die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen den sozialen und den räumlichen Grenzen bestehen. Die Grenzen können heißen: Segregation, Ghetto. Die moderne Stadtplanung arbeitet seit den zwanziger Jahren mit den Begriffen und Instrumenten der Zonierung. Das Denken der Planer wird seitdem vor allem bestimmt durch das Festlegen von Grenzen und Trennen von Funktionen: (Gewerbegebiete, Industriegebiete etc.). Von den Grenzen wesentlich zu unterscheiden sind die Ränder, die „Räume der Transformation“ sind und Bereiche verbinden.

Das Modell der offenen Stadt (auch in Anlehnung an Popper, Die offene Gesellschaft...) als ein Gebiet der Vielfältigkeit und zugleich der Widersprüche setzt eine Kommunikation des Differenten, des Anderen voraus. Diese wird erst möglich bei einer im Prinzip akzeptierten Wertigkeit des Differenten, das sich daraufhin auch selbst als bedeutsam akzeptiert sehen kann (Peter Marcuse). Umgekehrt ist diese nicht zu erwarten und findet ein Austausch nicht statt, wenn das Differente nur unter dem Aspekt der Diskriminierung erfahren wird. „In einer offenen Stadt ist die Bevölkerung insgesamt daran gewöhnt, auf Fremdes und Unerklärliches zu stoßen“.

Zwei für das Verstehen der urbanen Prozesse wichtige Begriffe sind der Raum und der Ort. Nach Martina Löw kann Raum als relationale Anordnung sozialer Güter und Menschen betrachtet werden. Dabei bezeichnet „spacing“ das Errichten, Bauen oder Positionieren. Dagegen stellt sich der Ort als der einzigartige Platz dar, der „konkret benennbar und meist geographisch markiert“ ist. Als Vorgang gilt hier das „placing“. Durch Plazierungen hervorgebrachte Orte können auch vorübergehend und flüchtig sein.

Wenn diese Begrifflichkeit angewendet werden soll auf das Modell der offenen Stadt, ergeben sich im Hinblick auf die Vorstellung der wachsenden kulturellen Komplexität weitere Fragen, welche Leitbilder der räumlichen Strukturierung und Planung zu Grunde liegen. Während die amtliche Planungspolitik seit den 60er Jahren davon ausgeht, daß es keine Klassen mehr gibt, muß das Ziel, die verschiedenen Kulturen sich im urbanen Netz frei entfalten zu lassen, vielfach noch erst vermittelt werden. Dem steht häufig das (negative) Bild vom Ghetto im Wege. Positiv wäre dem ein Modell der Ortsbildung und Vertrautheit im Cluster entgegen zu setzen (temporäre und veränderbare Präsenz). Diese kulturellen Cluster haben keine Abschottung, sondern Übergänge und Ränder. Die Kommunikation ist sowohl nach Innen wie nach Außen gerichtet. Eine Raumpersönlichkeit kann die Ortsbildung unterstützen bzw. ermöglichen.

Diskussion:

Themen:

· Zuwanderung, andere Kulturen, Sprachprobleme;

· Diskussion der Wünschbarkeit (des Gastlandes, der Zuwanderer)

· Ängste: Finanzielle Belastung, soziale Probleme, kulturelle                     Überformung/Veränderung

· Minderheiten (Durchsetzungsprobleme, auch für nicht-fremde Kulturen)

· Materialisierung der sozialen Vorgänge (Plätze)

· Problem der Steuerbarkeit der Prozesse

· Bauliche Formen als Unterstützung (auch: Kosten in Relation zu anderen Faktoren)

· Mögliche Rückwirkung von Gebautem (Klärung am konkreten Objekt)


Für das Protokoll: Krauss/Stöbe, Kassel den 30.10.02




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