19.11.2004
Protokoll zum 15. Gesprächsabend im
Architektursalon am 19.11.2004
Bazon Brock: Ästhetik und Funktion
Als Einleitung zum Thema „Ästhetik und
Funktion“ nahm Sylvia Stöbe zunächst Bezug auf die jüngste
Entwicklung bei dem Projekt für die „Topographie der Terrors“ in Berlin
von Peter Zumthor, der jetzt Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben
hat: Man könnte den Vorgang als Einstieg in das Thema des heutigen Abends
nehmen, geradezu als Beleg für die Aktualität des Streits über
die Rolle der Ästhetik. Bazon Brock antwortete sogleich: Peter Zumthor
sei mit diesem Projekt jedenfalls nicht daran gescheitert, dass der Entwurf
zu teuer geworden sei, sondern die ganze Sache sei seiner Meinung nach von
Anfang an verkorkst gelaufen. Das Geld sei nur Vorwand. Man suchte offensichtlich
nach Gründen, Zumthor und seinen Entwurf loszuwerden, ohne Verantwortung
übernehmen zu müssen. Um Machtansprüche, die durchgesetzt
werden sollten, ging es. Und damit begann der eigentliche Vortrag von Bazon
Brock.
Was bedeutet Ästhetik? Man hat Kant fälschlicherweise darauf reduziert,
er habe behauptet, Schönheit sei eine Frage des Geschmacks und deshalb
beliebig. Man begibt sich damit in einen Bereich, wo Urteile nicht mehr begründet
werden müssen. Geschmack zu haben bedeutet jedoch, zu differenzieren,
also Unterschiede feststellen zu können.
Wer Kunst sammelt und sie erwirbt, um sie in seine Sammlung einzureihen,
wird nicht mehr gefragt, warum er dies oder jenes erwirbt. Durch seine Entscheidung,
etwas zu erwerben, begibt er sich außerhalb des Bereichs der Notwendigkeit,
seinen Sachverstand nachzuweisen: Der Wunsch des Sammlers oder auch des Bauherrn
ist frei. Er kann sammeln, was er will und bauen, was er will. Auch wird die
Brauchbarkeit nicht hinterfragt. Entscheidend ist die Aneignung. Der Sammler
zeigt damit den Mut und die Kraft, sich mit Dingen zu umgeben, die sich seiner
Verfügung entziehen. Er zeigt eine Stressresistenz, mit der Unverfügbarkeit
umgehen zu können.
Wie Duchamp 1957 geschrieben hat, kann ästhetische Produktion nur die
Praxis sein. Dabei tut sich ein Graben auf zwischen dem, was die Absicht des
Künstlers war und dem, was dann verwirklicht werden kann. Ein Künstler
kann noch so lange studieren und lernen, er wird nie das Kunstwerk genauso
herstellen können, wie es in seinem Kopf war, wie er es sich gewünscht
hat. Gleichzeitig entsteht bei diesem Vorgang der künstlerischen Produktion
aber auch etwas, was nicht beabsichtigt war. Dies versteht man unter ästhetischer
Differenz.
Ähnliches geschieht bei jeder Kommunikation: Schon Kleist sprach vom
Verfertigen der Gedanken beim Sprechen. Der Sprecher hat Gedanken oder Gefühle,
die er kommunizieren möchte. Doch jeder Empfänger, jedes Gegenüber
empfängt diese Übermittlung anders und reagiert auch anders darauf.
Dies hat durchaus einen tieferen Sinn, denn nur so kann sich der Mensch weiterentwickeln.
Wie wir spätestens seit den informationstheoretischen Erkenntnissen der
1940er Jahre wissen, besteht der Zweck im Lernen: Wir können nur überleben
und uns weiterentwickeln, wenn wir ständig lernen. Und wir müssen
immer damit umgehen, dass wir irgendetwas nicht verstehen können. Manager
zum Beispiel sind Menschen, die das Nichtverstehen zu ihrem Beruf gemacht
haben. Sie können damit umgehen, dass sich etwas ihrer Verfügung
entzieht.
Kommunikation birgt immer eine Differenz: Der Weg geht von der Intention
über das Medium, z.B. die Sprache, und möchte ein Ziel erreichen.
Dazwischen liegt die Kommunikationsbarriere mit ihrer Doppeldeutigkeit der
Zeichen. Kommunikation lässt sich in viele Ebenen differenzieren: Ich
sehe etwas, er-fasse etwas, lege es dann aus und versuche zu verstehen. Dabei
sind mindestens drei Ebenen, meist fünf oder auch sieben Ebenen zu unterscheiden.
Auf diesem Weg des Verständnisses ist die ethische Frage zu stellen:
Entspricht die Information der Wahrheit? Die Fähigkeit zur Lüge,
die Fähigkeit sich zu verbergen, macht uns zu denkenden Menschen und
unterscheidet uns von Maschinen. Dazu gehören auch die fromme Lüge,
die Schlimmeres verhindern will, und die Lüge, die unter Erzwingung zustande
kommt. Dabei tendieren wir dazu, Probleme eher umgehen zu wollen. Wir benennen
z.B. nicht das Problem des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Nationen,
sondern nennen es stattdessen Multikulti, ohne dass damit das Problem gelöst
wäre.
Missverständnisse können produktiv sein. Eine teure Markenuhr
wird nachgebaut und für einen Bruchteil des Kaufpreises veräußert.
Die Herausforderung für uns besteht darin, die Fälschung zu erkennen.
Fakes gehören auch zum Repertoire der Kunst. Aus solchen Fakes kann sich
Produktives ergeben. Schönheit ist ein positiver Attraktor, etwas, was
unseren Blick anzieht, also die Ursache einer Hinwendung ist. Der Hinwendung
folgt jedoch sogleich wieder die Abwendung. Zuviel Schokolade kann man nicht
vertragen, man wird kotzen. Das limbische System ist hier die Ursache. Die
Wahrnehmung der Schönheit wird in Erinnerung verwandelt; in der Wieder-Aufrufung
der Erinnerung wird das Erlebnis sogar intensiver empfunden. Für diesen
Prozess der Einlagerung in die Erinnerung und die Wieder-Aufrufung desselben
ist das Wegsehen eine wichtige Voraussetzung.
Die Ästhetik hat in den 40er Jahren des 18.Jahrhundert festgestellt,
dass es für die Schönheit keine Normen gibt. Auch nicht beim Goldenen
Schnitt. Schönheit ist keine Wahrheit sondern wie eine Hypothese, die
nach Popper immer widerlegt werden muss. Heute wird das Kriterium oft aus
der Ökonomie geholt: Was für einen Gegenwert erhalte ich? Der mag
im Billigmarkt höher sein als beim Luxusprodukt: Luxus ist der souveräne
Verzicht auf eine entsprechende Gegenleistung. Da Askese bedeutet, dass ich
verzichten kann, kann ich also auch etwas verschenken.
Naturwissenschaft und Kunst sind die wenigen Dinge, die nicht von einer
einzelnen Kultur abhängen, sondern transkulturell diskutiert werden.
Gebildet sein, bedeutet seine Grenzen, seine Beschränkungen zu kennen.
Experte ist einer, der - je mehr er von einer Sache weiß - sie immer
problematischer sieht. Es geht aber darum, wie Individualität entsteht
und welche Folgen diese Subjektproduktion hat. Das Problem ergab sich aus
der Forderung nach Identität: Das Subjekt, entstanden als Steuerzahler
284 n.Chr., ist eine Person, die qua Adresse als Steuerzahler herangezogen
werden kann. Subjekt sein, bedeutet heute entscheiden zu müssen und
Verantwortung zu übernehmen. Dafür hat das Subjekt eine gewisse
Stressresistenz zu entwickeln. Um seine Stressresistenz unter Beweis zu stellen,
umgibt er sich mit Kunst, die er nicht versteht.
Architektur wird erst dann interessant, wenn sie Gegenstand einer Diskussion
wird. Aus dem Umgang mit dem Problem wird eine Gemeinsamkeit. Die Orientierung
am Problem schafft diese Gemeinsamkeit. Sie wird zum Instrument der Bindung.
Frank O. Gehry beispielsweise macht schlechte Architektur: Sie bedeutet aber
eine Herausforderung des Individuums. Damit wird Architektur zum Thema. Die
Herausforderung lohnt sich, wenn sie Leute zusammenbringt. Ebenso Rem Koolhaas:
Seine Anmaßung wird zum Thema. Oder auch bei Christo: Durch Verhüllung
eine Enthüllung herzustellen.
Resümee: Problematisierung ist die Devise: Das produktive Missverständnis.
Bereicherung durch Herausforderung. Umgehen mit einem Problem, umgehen mit
Vielfalt und Komplexität. Defizite produktiv machen.
15 Minuten Pause, danach folgt eine Diskussion, in der zum einen einige
Thesen des Vortrags weiter ausgeführt werden (Beispiel: Die Postmoderne
als „gefakte“ Architektur), zum andern kann der Referent, angeregt durch
Fragen, noch ein paar weitere Glanzlichter auf seinen Auftritt im Architektursalon
setzen; über 70 Personen haben ihn miterlebt.
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