17.1.2003



Protokoll zum 3. Gesprächsabend des Architektursalon am 17.1.2003

Michael Makropoulos: "Berlin, Mythos Potsdamer Platz"


Berlin, Potsdamer Platz - warum wurde dieser Platz zum Mythos? Zum dritten Gesprächsabend des Architektursalon waren knapp 20 Personen gekommen, die, offensichtlich interessiert an diesem Thema, zunächst dem einstündigen Referat von Michael Makropoulos folgten, um sich dann an der anschliessenden Diskussion engagiert zu beteiligen. Zu Beginn hatte Sylvia Stöbe den Referenten vorgestellt. Michael Makropoulos, habilitierter Soziologe, lehrt zur Zeit als Privatdozent an der FU Berlin. Er arbeitet und veröffentlicht seit Anfang der 80er Jahre auch zum Thema "Stadt und Moderne". In den 90er Jahren veranstaltete er ein Seminar zum Thema "Soziologie der modernen Architektur", durch das wir auf ihn aufmerksam wurden. Später folgten Themen wie "Foucaults Moderne" und "Benjamins Moderne". Besonders wichtig war im Sommersemester 2001 die Vorlesung über "Architektur und Gesellschaft im 20. Jahrhundert". Über das Thema "Potsdamer Platz" hatte er 2001 anlässlich einer Tagung der Sektion Kultursoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie referiert. Eine Teilveröffentlichung liegt vor ("Ästhetik und Kommunikation", Heft 116), eine umfangreichere Publikation wird im Herbst erscheinen (Joachim Fischer/Michael Makropoulos (Hg.): Potsdamer Platz. Soziologische Theorien zu einem Ort der Moderne. München, Wilhelm Fink Verlag 2003)

Bis vor kurzem war der Potsdamer Platz noch Baustelle, die grösste Europas, doch bereits früher schon war er zum Thema zahlreicher Diskurse geworden. Die viel besuchte Info-Box am Potsdamer Platz begleitete den Bauprozess über 5 Jahre mit detailreicher Information. Hier war "work in progress" zu besichtigen, hier wurde der Mythos "Baustelle" gefeiert - als Symbol für die Moderne selbst. In der Ausstellung der Akademie der Künste zum Thema "Glück-Stadt-Raum" wurde kürzlich gezeigt, wie gerade die Baustelle (im Sinne von Majakowskij) ein Symbol für den Fortschritt ist, mehr sogar als die Fabrik, die für Güterproduktion steht. Die Baustelle steht für die Wirklichkeitsproduktion, die wiederum Sinnbild der Moderne ist.

Die Neubebauung am Potsdamer Platz wurde mit bildhaften Bezügen auf die Geschichte dieses Ortes in Szene gesetzt. Der Potsdamer Platz wurde als Mythos der Grossstadt Berlin gesehen. Aber wie sieht die Geschichte in Wirklichkeit aus?

1740 entsteht das, was sich später zum Potsdamer Platz entwickelte als "Platz vor dem Potsdamer Thore": Er ist hier nur ein kleiner Appendix am grossen Oktogon des Leipziger Platzes, nicht mehr als eine Verkehrskreuzung vor der Akzisemauer, die erst 1867 abgerissen wurde. Noch davor entstand 1838 der Potsdamer Bahnhof, der also streng genommen ausserhalb der Stadtgrenze lag. Erst in den 20er Jahren entwickelte sich der Platz dann zum verkehrsreichsten Platz Berlins - und er wird in dieser Zeit zum Symbol der Weltstadt. Ende der 20er Jahre entstehen auf Initiative von Martin Wagner Umplanungskonzepte für den Platz mit Bebauungsvorschlägen der Brüder Luckhardt und von Marcel Breuer. Die Vorbilder dieser Planungen kommen aus Amerika, jedes Verkehrsmittel soll eine eigene Ebene erhalten. Der Platz soll zum Weltstadtplatz werden. Erich Mendelsohn erbaut das Columbiahaus. Ab 1933 nimmt die Bedeutung des Platzes deutlich ab, da mit der Achse "Germania" von Speer ganz andere Bezüge gesetzt werden sollen. Nicht weit vom Platz entfernt liegen die Zentren des nationalsozialistischen Macht- und Terrorapparates. Seit dem Kriegsende 1945 verlaufen die Sektorengrenzen der Russen, Briten und Amerikaner über den Platz. Nach dem Mauerbau 1961 bleiben die leeren Flächen beidseitig der Mauer ungenutzt. Auf westlicher Seite werden in den 80er Jahren für das brachliegende Gebiet Planungen unter dem Titel "Zentraler Bereich" erörtert, in Anknüpfung an das Kulturforum aus den 60ern. Der Film von Wim Wenders "Himmel über Berlin" zeigt den Platz als leeres Niemandsland. Nach der Wende wird die Planung zur Wiederbebauung rasch wieder konkret; 1991 wird ein städtebaulicher Wettbewerb ausgeschrieben, eine intensive publizistische Kampagne begleitet das Projekt.

Diese Kampagne spricht vom Mythos des Platzes. Doch warum wurde der Potsdamer Platz zum Mythos? Aber nicht nur das interessiert Michael Makropoulos. Er sieht den Mythos als retroaktiv. Dieser Mythos verändert Gegenwart und Vergangenheit zugleich. Warum waren die 20er Jahre entscheidend?

Berlin galt und fühlte sich in den 20er Jahren als die schnellste Stadt der Welt. Die wesentliche Funktion des Platzes war in dieser Zeit die einer Drehscheibe für den Verkehr. Der Verkehr symbolisiert in besonderer Weise das Zeitalter der Moderne. Daneben siedelten sich am Platz und dessen Rändern mit der Zeit auch zunehmend Einrichtungen der Vergnügungswelt an. Im Grunde war er aber kein eigentlicher Platz. Auf die "Unform" des Platzes ist mehrfach hingewiesen worden (vgl. Gerwin Zohlen). In Anlehnung an Robert Musil könnte man ihn als "Platz ohne Eigenschaften" bezeichnen. Seine "Funktion" erhält er dadurch, eine Idee, eine Abstraktion materiell zu verankern: Die Urbanität als Lebensform.

Aber was bedeutet Urbanität? Was bedeutet uns die Stadt? Makropoulos nannte im Anschluß an Louis Wirth drei Kriterien: Grösse, Dichte und Heterogenität. Davon sind die ersten beiden trivial. Entscheidend ist die Heterogenität. Nach Robert Park ist Stadt ein Mosaik unterschiedlicher Welten, die sich berühren, aber nicht ineinanderdringen. Die Stadt ist die gelebte Inkohärenz sozialer Wirklichkeiten. Hans-Paul Bahrdt prägte dafür den Begriff der unvollständigen Integration. Wichtig ist die positive Bestimmung der Fremdheit als strukturell garantierte Freiheit in der Stadt (Georg Simmel). Eine Stadt wird dem entsprechend dann zur Metropole, wenn sie nicht mehr zwischen Einheimischen und Fremden unterscheidet (Hoffmann-Axthelm). Zugespitzt könnte man sagen: Das Gewühl in der Stadt ist der eigentliche Ort der Freiheit. In der Stadt wird Individualität als Freisetzung aus traditionellen Gruppenbindungen erfahrbar. Die eigene Individualität erscheint als Produkt und das Leben als das Spiel, man selbst oder ein anderer zu sein (Roland Barthes). In Anlehnung an Niklas Luhmann gesagt: Einheit und Differenz zur gleichen Zeit bilden die Atmosphäre der Stadt, sofern "Atmosphäre" ein "Überschußeffekt der Raumbesetzung" ist, in dem Kontingenz kultiviert wird.


Zwei Aspekte sind zu beachten:

1) Verkehr: Bereits in den 20er Jahren hatte Siegfried Kracauer auf die Bedeutung des Tempos und der Beschleunigung hingewiesen ("alles verkehrt miteinander"). Für Walter Benjamin war die Intensivierung des Lebenstempos die neue Realität des modernen Lebens. Helmut Lethen spricht vom Zirkulationstaumel. Die damit in Zusammenhang stehende Beschleunigung der Wahrnehmung ist nicht als Problem gesehen worden, sondern als Voraussetzung einer neuen Lebensform. Von Le Corbusier stammt der Leitsatz: "Die Stadt der Geschwindigkeit ist die Stadt des Erfolges".

2) Oberflächenhaftigkeit: Die Kultivierung der Oberfläche ist charakteristisch für die Moderne und für die Neue Sachlichkeit: Beleuchtung, Lichtreklame, überhaupt die Reklamewelten werden bedeutsam; der Film, das neue Medium, setzte auf die neuen sensorischen Möglichkeiten, aber auch die taktile Dimension steht im Vordergrund. Mit der Entgrenzung des Ästhetischen ins Alltägliche entwickelt sich die nicht-bürgerliche, massenkulturelle Ästhetik. Die Glätte der Oberflächen gestattet eine Visualisierung der Abstraktion.

Martin Wagner hat 1929 für die Umplanung des Potsdamer Platzes drei Elemente als wesentlich herausgestellt: a)Verkehrsplanung, b)Fassadengestaltung, c)Konsumwelt. Demnach verbinden sich Technisierung und Ästhetisierung über die Ökonomisierung. Das eben bezeichnet die urbane Massenkultur, wobei der Begriff nicht despektierlich (wie noch bei Adorno/Horkheimer in der "Dialektik der Aufklärung" unter dem Begriff der "Kulturindustrie"), sondern positiv und produktiv zu verstehen ist. Die Attraktivität der Massenkultur beinhaltet mehr als Freizeit und Konsum. Allerdings ist auch keine Volkskultur oder Popularkultur gemeint.

Makropoulos beendete sein Referat mit folgender These: Massenkultur ist das Medium bzw. (nach Foucault) das Dispositiv einer gesamtgesellschaftlichen Aneignung artifizieller Wirklichkeiten. Es findet eine soziale Aneignung von Technisierung statt - und dies im Sinne eines konstruktivistischen Verhältnisses zu sich selbst und zur Wirklichkeit. Es geht darum, Identitäten herzustellen und damit zu spielen. In dem Bewusstsein jedoch, dass jede Konstruktion kontingent, d.h. auch anders möglich ist, wird eine Legitimation nötig, die der Mythos bietet. Roland Barthes versteht den Mythos als eine Aussage, eine Botschaft, eine Weise des Bedeutens. Diese überformt alles, ist Metasprache und überformt somit auch den Diskurs. Damit wird letztlich die Selbstbegründung der Moderne obsolet, denn der Mythos vereinfacht Komplexität und verwandelt Geschichte in Natur. Es entsteht eine Legitimation über die Geschichte hinaus, eine Ontologisierung von Konstruktionen . Mit den Worten von Rem Koolhaas: "Der wahre Anspruch der Grossstadt ist, eine total von Menschen erdachte Welt zu schaffen". Und der Mythos "Potsdamer Platz" ist ein Versuch, dieser erdachten Welt die Unbezweifelbarkeit von Natur zu verleihen.


Diskussion:

Richard Röhrbein fragt nach dem Realitätsgehalt der These von der Verkehrsüberflutung in den 20er Jahren. Auffällig ist auch die Diskrepanz zur heutigen Situation nach der Neubebauung mit dem Ergebnis, dass jetzt vergleichsweise wenig Verkehr auf dem eigentlichen Platz stattfindet. Deutlich ist das Motiv der Überhöhung in den 20er Jahren, wo eine positive Darstellung des Verkehrs als Fortschritt plakatiert wurde. Das Ziel war die Organisierung und nicht die Beseitigung bzw. das Ordnen des Chaos’. Bis heute hat hier ein Wandel stattgefunden. Der Verkehr kann nicht mehr zur Positivierung beitragen.

Ungeachtet des Mythosbezugs zur Epoche der 20er Jahre ist das für die Neubebauung des Potsdamer Platzes massgebliche heutige Leitbild nicht die moderne, sondern die "europäische" Stadt, wie es insbesondere der Berliner Senatsbaudirektor Stimman mehrfach erklärt hat - auch hier haben wir es wieder mit einem Mythos zu tun.

Von Michael Eissenhauer wird darauf verwiesen, dass vom Potsdamer Platz - aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg - auch ein Bezug zum Expressionismus und zu den entsprechenden Werken E. L. Kirchners zu sehen ist. Auch hier findet sich schon das Thema der Beschleunigung. Von da - wird zu bedenken gegeben - führt ein Weg letztlich in den Krieg als der höchsten Form der Beschleunigung. Michael Makropoulos erwähnt dazu Paul Virilio, der auch den Zusammenhang von Beschleunigung und Krieg deutlich gemacht hat, wendet aber ein, dass Beschleunigung nicht zwingend zum Krieg führt.

Eine weitere Frage bezieht sich auf die Funktion des Mythos: Warum und von wem wird der Mythos in den 80er und 90er Jahren gebraucht? War es vor allem eine Marketingstrategie, da Berlin den Anschluss an die "global cities" suchte (was nicht gelungen ist)?

Eine kontroverse Diskussion ergibt sich zu der Frage, was eigentlich heute auf dem Platz real stattfindet? Die individuellen Wahrnehmungen schwanken zwischen der Einschätzung, er sei nach wie vor nur ein Zentrum für einen spezifischen Tourismus und der These, mittlerweile habe sich auch "der" Berliner das Areal (vorwiegend die Mall) wieder angeeignet. Und was verbirgt sich hinter einem Begriff "Urban Entertainment Center" für das Sony-Center? Welche Art von Urbanität wird angestrebt, wenn doch alles "gated", also hoch kontrolliert vor sich geht?

Was symbolisiert der Platz heute? Soll er die wiedererlangte Normalität nach der Einheit symbolisieren, soll er manifestieren, Berlin hat den Anschluss an die Metropolenentwicklung wieder gefunden? Die gegenwärtige Variante des Mythos "Potsdamer Platz", so Makropoulos' These zum Schluß: Er ist die Ontologisierung der Normalität gewordenen massenkulturellen Urbanität.




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