15.10.2004



Protokoll zum 14. Gesprächsabend im Architektursalon am 15.10.2004

Gert Kähler: Was ist Baukultur?





Der erste Abend in der Vortragsreihe „Baukultur“, die vom Architektursalon-Kassel in diesem Wintersemester 2004/05 in den Räumen des Kasseler Architekturzentrums (KAZ) durchgeführt wird, steht unter dem Thema „Was ist und wozu braucht man Baukultur“. Der Einladung sind rund 45 Personen gefolgt. Barbara Ettinger-Brinckmann begrüßt zunächst die Anwesenden im Nahmen des KAZ und gibt ihrer Genugtuung Ausdruck, dass es endlich gelungen sei, den Architektursalon ins KAZ zu holen. Sylvia Stöbe dankt im Namen des Architektursalons für die freundliche Aufnahme. Ihr weiterer Dank gilt der Karola-Plassmann-Bahl-Stiftung, die die Veranstaltungsreihe finanziell fördert. Sodann stellt sie den Referenten des Abends, Herrn Prof. Dr. Gert Kähler vor.

Gert Kähler beginnt seinen Vortrag mit einer Vorrede in vier Punkten:

1)    Das Fatale an der Baukultur ist, dass im Grunde alle damit einverstanden sind: Es gibt, wie es scheint, eigentlich gar keine abweichende Meinung, man braucht deshalb auch nicht lange darüber zu reden. Das bedeutet aber, dass es ein Thema von „durchschlagender Wirkungslosigkeit“ ist. Etwa in der Art, wie man sich für den Weltfrieden aussprechen kann: Alle sind dafür, nur keiner kann ihn herstellen.

2)    Erkennbar ist ein Widerspruch: Einerseits ist Baukultur eine gesellschaftliche Frage, das heißt, dass sie auf das System der geltenden Regeln und Konventionen bezogen ist. Anderseits geht die derzeitige Tendenz in Richtung auf eine immer weiterreichende Deregulierung und Liberalisierung mit dem Ergebnis, dass jeder machen kann, was er will. Baukultur bildet dabei eine Art Phantomschmerz: Wir besuchen im Urlaub alte Städte; wir finden es dort schön. Es drückt sich in der Architektur dort noch eine einheitliche Kultur aus. In unseren modernen Städten gibt es dagegen die bewusste Auseinandersetzung um die anstehenden Probleme.

3)    Und was bedeutet Baukultur in der aktuellen Bauwirtschaftskrise? Bei Bevölkerungsrückgang und Überalterung, weniger Finanzmitteln und geringem Bauvolumen hat sich die Frage nach der Quantität im Prinzip erledigt. Qualität ist gefragt. Man muss mit dem wenigen Geld, das zur Verfügung steht, sorgsamer umgehen, nachhaltig planen und bauen.

4)    Der letzte Punkt: Wie entsteht in der Gesellschaft mehr Interesse an Baukultur? In einer Rede im letzten Jahr bezeichnete Bundespräsident Rau die Baukultur als einen wichtigen Teil der gesellschaftlichen Selbstverständigung. Angesichts der Probleme, die Kinder heute beim Schreiben und Lesen haben, muss man aber davon ausgehen, dass sie sich auch immer schwerer in der Umwelt zurechtfinden. Auch Lehrer beschäftigen sich kaum mit Architektur und Baukultur, weil sie denken, dass sie davon zu wenig verstehen.

Zur Begriffsdefinition:
Baukultur bedeutet die Produktion von und den Umgang mit gebauter Umwelt, insofern betrifft Baukultur letztlich alle Bürger und alle Baumaßnahmen, auch Strassen und Brücken. Es handelt sich um eine gemeinsame Anstrengung. Baukultur beeinflusst alle, verändert alle, kann allen daher auch nicht egal sein. Doch funktioniert sie nicht nach einem einfachen Ursache-Wirkungs-Prinzip. Jeder hat in seiner Biographie Erinnerungen an bauliche Umwelten. Von der Baukultur zu unterscheiden ist die Baukunst, mit der sie gern verwechselt wird.

Die Initiative Baukultur wurde 1999 vom damaligen Bundesbauminister Klimmt gestartet. Es handelt sich also um eine Initiative des Bundes. Da der Aufgabenbereich Kultur jedoch in die Zuständigkeit der Länder fällt, kann der Bund eigentlich nur den Rahmen festsetzen. Baukultur wurde inzwischen auch in das Baugesetzbuch aufgenommen. Es wird u.a. gefordert, Wettbewerbe durchzuführen. Die Beispiele, die jetzt von den Ländern publiziert werden, stammen aber meist noch aus der Zeit vor der Initiative Baukultur.

Ein Exkurs:
Die Niederlande richten seit je ihre besondere Aufmerksamkeit auf die Gestaltung der Umwelt. Es gibt einen Reichbaumeister, das NAI und 35 Architekturzentren. In den Niederlanden wird das 53fache für Baukultur ausgegeben im Vergleich zu Deutschland, nämlich 1 Euro pro Einwohner. Dies kann man nur als vorbildlich bezeichnen. Dennoch passierte es in Groningen, dass die Bevölkerung der Stadt, obwohl dort zahlreiche interessante moderne Gebäude gebaut wurden, sich für den historisierenden Wiederaufbau der Stadt im Stil des 19.Jahrhundert aussprach - was Architekten falsch, jedenfalls nicht vorbildlich finden würden. Und in Kassel gibt es bemerkenswerte Beispiele der Architektur der 50er Jahre - dennoch wünschen die Bewohner sich die alte Stadt zurück und lieben den Klassizismus. Ist dies nun ein Zeichen schlechten Geschmacks? Ist man Populist, wenn man sich auf solche Wünsche einlässt?

Die Architekten gelten als die eigentlichen Experten des guten Geschmacks. Könnten sie daher im Falle einer Abstimmung über architektonische Geschmacksfragen erwarten, dass ihnen drei Stimmen zustehen? Oder sollten auch sie zuvor eine Geschmacksprüfung ablegen?

Christina Weiss bezeichnete die Baukultur als die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt. Doch interessieren sich die Bürger eigentlich für diese Fragen? Sie können mit dem abstrakten Begriff „Baukultur“ eher wenig anfangen. Baukultur ist vielmehr ein Prozess der Auseinandersetzung zwischen bestimmten Gruppen der Gesellschaft. Diese Auseinandersetzung setzt aber Kenntnisse und Wissen voraus. Und um sich gegenseitig zu verstehen und verstanden zu werden, muss man auch bereit sein, etwas dazuzulernen. Oft ist die Auseinandersetzung von bescheidenem Niveau und ungeübt im Verstehen. Verstehen ist aber erlernbar.

Was will der Bürger? Kann man Schönheit messen? Jeder hat eine andere Perspektive, es gibt unterschiedliche Rezeptionen von Umwelt. Die eigene Wohnung wird meist nicht in einen Zusammenhang mit Architektur oder Baukultur gebracht. Für diese Fragen ist sie tabu, sie kann nicht distanziert betrachtet werden. Bei Umfragen wollen 80% ein Einfamilienhaus im Grünen; gleichzeitig sind aber auch 80% mit ihrer Wohnsituation zufrieden - was bedeutet, dass man sich selbst nicht in Frage stellt und Kritik aus seinem Leben wegschiebt.

Engagiert sich der Bürger in einer Bürgerinitiative, richtet sich diese in der Regel gegen eine bestimmte Maßnahme. Geplante Veränderungen der Umwelt werden vom Bürger meist als Belastung und Verschlechterung aufgenommen. (In der Nachkriegszeit war dies allerdings anders, damals stellten die Veränderungen meist noch eine Verbesserung dar.) Bei einer Bürgerbeteiligung müssen auch Nicht-Fachleute einbezogen werden. Sie brauchen Kenntnisse, um entscheiden zu können.

Die heutigen Probleme stehen vor allem im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Stagnation und der schrumpfenden Bevölkerungszahl, nicht nur im Osten. Auffällig ist die schnelle Veränderung der Umwelt – ein Umdenken ist notwendig. Der Umbau der Städte ist die Aufgabe - aber wer wird darüber entscheiden? Es gibt keine homogene Öffentlichkeit mehr. Während die Stadt des 19.Jahrhundert noch eine Stadt für alle sein (oder jedenfalls werden) wollte, während der soziale Wohnungsbau Gleichheit anstrebte, besitzt dies alles die Stadt von heute nicht mehr. Werden wir noch die Slums von morgen erleben? Wenn wir Wettbewerbe veranstalten, Bürgerbeteiligungen durchführen - wie soll das im Kostenengpass funktionieren?  Ist Zufriedenheit messbar?

Aus diesem Unbehagen heraus wurde die Initiative Baukultur gegründet. Dass man sich über die Inhalte nicht immer einig sein wird, ist die gesellschaftliche Realität – und auch der Kern von Baukultur in einer offenen Gesellschaft.

Nach einer kurzen Pause folgt die Diskussion, die mit der Frage beginnt, ob es sich bei der Baukultur eher um ein Kommunikations- oder ein Ästhetikproblem handele. Auch die Kritik, die von manchen Fachleuten vorgebracht wird, das Thema Baukultur sei eigentlich ein Thema von gestern, wird angesprochen. Dem wird entgegengehalten, dass die Baukultur ein Gegenstand sei, dessen politische Aktualität außer Zweifel stehe; es müsste jedoch die soziale Relevanz deutlich gemacht werden. Kähler betonte, dass eine substantielle Auseinandersetzung über Baukultur umso eher in Gang komme, wenn das „Bedrohliche“ der Streitgegenstände erkennbar werde, davon ausgehend, dass gebaute Umwelt oft Unbehagen auslöst. Baukultur entsteht als Ergebnis von Entscheidungen. Dazu noch einmal die Frage: Wie soll, wie kann der Bürger in den Stand versetzt werden, kompetent mitzureden, woher kommt das Wissen? Wichtig sei hier auf jeden Fall eine stärkere Vernetzung der verschiedenen Gruppen in der Stadt. Man müsse das Thema auf allen Ebenen angehen, auch wenn man natürlich nicht erwarten könne, dass alle erreicht würden, schränkte Kähler ein. Man müsse aber Phantasie entwickeln und auch fachlichen Hochmut ablegen; kontraproduktiv sei es, wenn Laien immer erstmal betont als „Laien“ eingestuft würden. Es wurde auch ein kritischer Vergleich gezogen zwischen dem „Tag des offenen Denkmals“, der ein sehr gutes Echo habe und dem weniger beachteten „Tag der Architektur“, der in der Regel eher fachlich Interessierte anzuziehen scheine. Kritisch wurde auch festgestellt, dass ein stärkeres Interesse an einer bestimmten Architekturepoche, wie man es derzeit etwa bei der Nachkriegsarchitektur sehen könne, nicht bedeute, dass das soziale Miteinander dadurch verbessert würde. Ein weiteres Problem wurde darin gesehen, dass viele Gemeinden mit einem stark reduzierten Personalbestand schlecht gerüstet vor den Planungsaufgaben stünden, die von der „Gegenseite“ der privaten Investoren an sie herangetragen würden.

Zwei einfache Mittel, das Thema Baukultur weiter publik zu machen, sieht Gert Kähler in folgendem:

1)    An jedem Bauwerk sollte ein Schild angebracht werden mit den wichtigsten Daten (Bauherr, Architekt, Größe, Kosten u.a.m.)

2)    Jedem Gesetz sollte ein „Null-Paragraf“ vorgeschaltet werden: „Beim Bauen kommt es auch auf Gestaltung an“.




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