10.10.2003
Protokoll zum 7. Gesprächsabend des Architektursalon am 10.10.2003
Gerhard Panzer: "Der erinnerte Raum"
Können wir uns eigentlich einen Raum vorstellen, den wir nie zuvor gesehen
haben? Wie können wir neue Räume entwerfen, die es nie zuvor gegeben
hat? Wie weit ist hier unsere Erinnerung und unser Gedächtnis beteiligt?
Zur Einführung an diesem Abend warf Sylvia Stöbe diese Fragen auf,
denn Gerhard Panzer hat sich mit der Rolle befaßt, welche die räumliche
Umwelt in der Erinnerung einnimmt. Er hat dazu Zeitzeugen befragt, beispielsweise
nach ihrer Erinnerung an den Potsdamer Platz.
Gerhard Panzer lebt seit über zwanzig Jahren in Kassel; daher sind ihm
auch die historischen Brüche dieser Stadt bekannt. Er begann sein Referat
mit einer kleinen Episode, die er einmal in der Straßenbahnlinie 8
beobachtete, als sich eine erregte Diskussion darüber entspann, ob man
jetzt über die Hohenzollernstraße oder die Friedrich-Ebert Straße
fahre. Schon die Umbenennung einer Straße, kann zu widersprüchlichen
Affekten Anlass geben. Die Wieder-Begegnung mit einem Raum, die Feststellung
der Nichtübereinstimmung von Erinnerung und realer Situation, verursacht
Brüche. Die Erinnerung wird über die bauliche Umwelt stimuliert
oder mobilisiert. Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich. Die Modernisierung
hat Spuren hinterlassen. Und in der Strassenumbenennung liegt natürlich
auch ein politisches Programm.
Der Raum ist zeitlich geschichtet, wie ein Palimpsest, als Folge eines wiederholten
Überbauens von historischen Strukturen. Von den Erfahrungen der historischen
Brüche betroffen sind vorwiegend ältere Menschen. Wenn man davon
ausgeht, dass das übliche Maß an baulicher Erneuerung in der Substanz
mindestens 1-2% im Jahr beträgt, ergeben sich für die Stadtgestaltung
Probleme bei der Frage, wie weit man Orte der Erinnerung erhalten kann oder
wie weit man die Modernisierung vorantreibt. So wird beispielsweise darüber
diskutiert, ob die Kuppel des Schlosses Wilhelmshöhe rekonstruiert oder
ob der Königsplatz erneut umgebaut werden soll. Oder auch, wie man mit
historischen Objekten umgeht wie dem Aschrottbrunnen, den man in der Negation
seiner ursprünglichen Gestalt wieder aufgebaut hat. Es ergeben sich
Interessenkonflikte und konkurrierende Strategien.
Der Potsdamer Platz in Berlin, ein klassischer Ort der Moderne, wurde als
Exempel für eine kleine Befragung ausgewählt. Panzer beginnt zur
Einführung mit einem Zitat: „Ich kann den Platz nicht finden…, da war
doch das Café Josty…“ Es ist ein Monolog aus Wim Wenders’ Film „Himmel
über Berlin“. Das leere Brachland wird zum Ort einer Gegenwartsbewältigung
durch Erinnerung, nicht einer Vergangenheitsbewältigung. Orte wie die
nahe gelegene Erinnerungsstätte „Topographie des Terrors“ sollen hingegen
die Erinnerung an das Vergangene wach halten. Bauten und Objekte geben uns
einen Anhalt für die flüchtige Erinnerung. Nach Maurice Halbwachs
sucht sich das Gedächtnis eine räumliche Metapher, einen räumlichen
Rahmen. Der Ort, der Raum sind Bestandteile des kollektiven wie auch
des individuellen Gedächtnisses. Ohne die Hilfe durch materielle Dinge,
ohne den Bezug zu den „Steinen der Stadt“, würden wir vieles einfach
vergessen. Mit Dieter Hoffmann-Axthelm gesprochen: „Es gibt keine Erinnerung
im Nirgendwo“. Werden die Nonnen und Mönche aus den Klostern vertrieben,
müssen auch die Bauten niedergerissen werden und jeder, der sich daran
erinnert, muss gestorben sein, ehe ein wirkliches Vergessen eintritt. Die
Zerstörungen durch Kriege verursachen radikale Veränderungen in
der baulichen Gestalt einer Stadt (Beispiel Kassel). Der Bezug zum Ort wandelt
sich. Nach der Zerstörung Dresdens scheitert die Erinnerung vor Ort,
die Stadt wird zum Konstrukt individueller oder kollektiver Erinnerung. Erinnerung
wird sowohl durch ein kommunikatives wie auch durch ein kulturelles Gedächtnis
gestützt. Jan Assmann bezieht sich auf das kulturelle Gedächtnis
und auf die kulturelle Formung, z.B. durch Architektur. Das kulturelle Gedächtnis
hat nichts Statisches, sondern geht mit jeder Generation weiter, während
die Gebäude, der Raum, die Straße - einmal baulich fixiert - als
objektivierte Kultur verbleiben.
Die Erinnerungen an den Potsdamer Platz wurden in einer Reihe von etwa 20
Gesprächen im Jahr 2001 zusammengetragen. Da es nur eine relativ kleine
Zahl von Interviews war, (so z.B. nur vier Personen, die den Platz der 20er
Jahre erinnerten), kann man sie nur als Facetten verstehen. Die Erinnerungen
an den Platz der 20er Jahre waren Kindheitserinnerungen, etwa an die Schaufenster
des Kaufhauses Wertheim am Leipziger Platz oder an die Fassade mit der großen
Sarotti-Mohr-Reklame, die zum Spaß der Kinder mit dem Auge zwinkert.
Der Potsdamer Platz, der stets als Ort der Moderne bezeichnet wird, ist in
diesen Kindheitserinnerungen das „Wohnzimmer der Stadt“. Er wird so idealisiert.
Die Moderne war in den Fassaden noch nicht ablesbar, denn die meisten Fassaden
stammten aus der Gründerzeit. Die Moderne wurde dagegen in den ehrgeizigen
neuen Verkehrsplanungen manifest, die aber aufgrund der Wirtschaftskrise
nicht realisiert werden konnten. Die nachfolgende Kriegszeit wird in den
Erinnerungen meist ausgeblendet. Die Kinder waren zu ihrer Sicherheit auf
das Land gebracht worden, die älteren mussten in den Krieg ziehen. In
der Kriegszeit gab es verständlicherweise keine Ausflüge in die
zerstörte Innenstadt. Nach dem Krieg wurde der Potsdamer Platz dann
zu einem günstigen Ort für Schwarzmarktgeschäfte, da man in
drei Richtungen, nämlich in die drei Sektoren der Besatzungsmächte
fliehen konnte. Aus den frühen 50er Jahren wird der Aufstand von 1953
erinnert und dann später der Bau der Mauer 1961. In den folgenden Jahren
wurde die Mauer am Potsdamer Platz zum Touristenziel unzähliger Schulklassen.
Aber auch Feste im alten Hotel Esplanade werden erinnert. Die letzte Phase
unmittelbar vor dem Fall der Mauer und der Neubebauung des Platzes ist durch
das Tempodrom, den Flohmarkt und die Wohnwagensiedlungen markiert. Die Neubebauung
überdeckte schließlich alle diese Erinnerungen. So realisiert
sich auch hier wieder, um es mit den Worten von Thomas Will zu sagen, die
Moderne als Projekt des Vergessens.
In der nachfolgenden Diskussion wurden einzelne Aspekte des Themas weiter
vertieft. Es waren rund 20 Gäste zu diesem ersten Vortragsabend im neuen
Programm des Architektursalons erschienen.
home
|