05.12.2003


Protokoll zum 9. Gesprächsabend des Architektursalon am 5.12.2003

Wolfgang Kil: "Überflüssige Städte?"
Wolfgang Schulze: "Wildnis Kassel"


Zur bisher ungewohnt frühen Zeit um 18:30 Uhr versammelten sich über 35 Menschen im Kasseler Architektursalon, um die Vorträge von Wolfgang Kil und Wolfgang Schulze zu hören.

Wolfgang Kil, Architekturkritiker, der in Berlin zuhause ist und dessen Sozialisation sich in der DDR vollzogen hat, wollte mit seinem umfänglichen Diavortrag zum Nachdenken anregen, nicht aber schockieren. Schockierte Zuhörer habe er bereits mehrfach erlebt, er hoffe aber, dass im (früher so genannten) Zonenrandgebiet Kassel mindestens ein Grundwissen über die Situation in Ostdeutschland vorhanden sei. Als ehemaliges Zonenrandgebiet war Kassel selbst ja ohnehin seit längerem keine wirtschaftlich prosperierende Region mehr. Schockieren konnten seine Bilder dennoch, denn sie zeigten eine bedrückende Vielzahl leer stehender Häuser und verwilderter Außenbereiche, etwa aus Wittenberge oder Hoyerswerda, deren Bevölkerungszahl sich um 30% reduziert hat. Der Leerstand von Wohnungen nimmt fast überall in Ostdeutschland ein bedrohliches Maß an. Es stehen schon heute über eine Million Wohnungen leer. Dieser Leerstand, der in einzelnen Stadtvierteln sogar schon bis an 50% heranreicht, hat seinen ökonomischen Umschlagspunkt in einem zusammenhängenden Mietbestand bei 15%, d.h. man benötigt rechnerisch vier Wohnungen, um die durch eine leer stehende fünfte Wohnung entstehenden Ausfälle aufzufangen.

Provokative Frage: Ist dies wirklich so dramatisch? Gab es nicht immer schon Umschichtungen, wie z.B. infolge der Krise der Montanindustrie? Der Niedergang der bisherigen industriellen Struktur Ostdeutschlands und die Geschichte der Vereinigung der beiden deutschen Staaten führte jedoch zu einer Verschärfung der Problematik, die wenig Vergleichbares kennt. Zwischen 1990 und 2000 wanderte eine Million Menschen von Ost- nach Westdeutschland. Bis 2050 rechnet man sogar mit einer Halbierung der dortigen Bevölkerungszahl. In der Lausitz werden aufgrund der Stilllegung des Braunkohleabbaus von ehemals 60.000 Arbeitern heute nur noch 5.600 gebraucht. Neue Techniken ersetzen alte Arbeitsplätze; die Arbeitslosigkeit liegt bei 25%.

Man könnte dies als Epochenschwelle bezeichnen: Es handele sich grundsätzlich um eine De-Industrialisierung, nicht nur um eine Postindustrialisierung. Die Wachstumsgesellschaft sei hier offensichtlich am Ende, es finde nur noch eine Entschleunigung statt. Die weitergehende Frage sei, ob sich damit auch eine mögliche „Zukunft“ für den westlichen Teil Deutschlands abzeichnet.

Viele Fragen, keine Antworten. Immerhin ist doch eines klar: Auch der Rückbau braucht Fachleute. Wie der Arzt bei der Geburt wie auch beim Tod eines Patienten präsent ist, so muss auch der Planer nicht nur eine Baukultur, sondern auch eine „Rückbaukultur“ entwickeln. Die Betroffenen müssen beteiligt werden, Rituale des Abschieds sind zu entwickeln. Die Leere, die übrig bleibt, kann sich die Natur zurückholen, doch auch hiefür müssen die richtigen Weichen gestellt werden. Neue Freiräume für Experimente stehen zur Verfügung.


Unmittelbar im Anschluss an den Vortrag von Wolfgang Kil  berichtete Wolfgang Schulze über seine Gedanken zum Rückbau, der aufgrund des allgemeinen Bevölkerungsrückgangs auch in Kassel droht.

Wie Statistiken zeigen, wird die Bevölkerungszahl in Zukunft drastisch abnehmen, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden. Schaut man sich die Entwicklung der Stadt Kassel genauer an, stellt man einen kontinuierlichen Rückzug aus der Innenstadt und einen verstärkten Zuzug in die Region fest: Wachstum vor den Toren der Stadt und Schrumpfung im Inneren. Das Bild der europäischen Stadt sei nur noch Traumbild der Planer, die verdichtete Innenstadt als Wohnort entspreche nicht der Realität. Man wohnt draußen und nutzt die Innenstadt nur noch für bestimmte gezielte Aktionen.

Schulze entwickelte mit seiner Studiengruppe verschiedene Schaubilder für die mögliche städtebaulichen Entwicklung Kassels. Heute leben ca. 196.000 Einwohner im Stadtgebiet (etwa 2.500 Personen pro Quadratkilometer). Im Jahre 2010 werden dort nur noch schätzungsweise 178.000 Personen wohnen (etwa 2.300 Personen pro qkm). In weiterer Zukunft ist eine Bevölkerungsdichte von nur noch 1.000 Personen pro Quadratkilometer denkbar. Wie sähe dann unsere Stadt aus?

Wolfgang Schulze nimmt an, dass im Stadtgebiet dann nur noch 75.000 Menschen leben, im Randgebiet dagegen 225.000. Für diese Situation erarbeitete er mit seiner Gruppe ein Modell, das davon ausgeht, dass in der Innenstadt nur noch wenige Bauten stehen. Dazwischen liegen Grünbereiche. Die vergleichsweise lockere Struktur des Nachkriegsaufbaus von Kassel eigne sich hierfür besonders gut. Die verbleibenden Inseln der Bebauung müssten noch verkehrstechnisch verbunden werden. Was für die einen eine Horrorvision darstellt, wird hier positiv umgedeutet.


Gegen 21:00 Uhr folgte dann eine Diskussion. Klaus Pfromm beklagte zunächst ein Mißverständnis: Hier werde die drohende Katastrophe möglicherweise ästhetisiert. Die schönen Grafiken könnten den objektiven Blick auf die Problematik verdecken. Schulze hielt dagegen, dass er gar keine Wertung vornehmen wolle. Es gibt den „Sprawl“, es gibt die Peripherie und man müsse damit umgehen. Die Diskussion um die europäische Stadt, die immer nur wiederherstellen wolle, die nur den Verlust des früheren Schönen beklage, sei fern jeder Realität.

„Wildnis“ sei bei uns zunächst ein negativer Begriff, meinte Kil, sie könne aber auch positiv gesehen werden. Die Frage sei nur, ob dies dann noch „Stadt“ ist. Ingrid Lübke gab zu Bedenken, dass dies nur Hypothesen seien, sozusagen ein Spiel über die Frage, wie Schrumpfung sinnvoll vonstatten gehen könnte. Christian Kopetzki verwies auf das Beispiel USA, wo jetzt auch die Innenstädte wieder Zulauf haben. In seiner Studie über Zu- und Wegzüge aus Kassel habe er festgestellt, dass im Jahr 2015 voraussichtlich auch die Peripherie schrumpfen werde und dass schon heute vorwiegend ältere Menschen ihre Häuser in der Region wieder aufgeben und zurück nach Kassel zögen, weil sie die anstrengende Gartenpflege nicht mehr schafften. Doch fehlten in der Stadt entsprechende Angebote.

Zum Tenor des Vortrags von Wolfgang Kil merkten Richard Röhrbein und Christian Kopetzki an, dass man grundsätzlich auch einen ganz anderen Vortrag über die Beitrittsländer halten könnte. Viele Regionen seien doch auf das Schönste und Beste renoviert worden. Wolfgang Kil machte dazu noch einmal auf die Bedeutung der wirtschaftlichen Situation aufmerksam. In Thüringen sehe es deshalb besser aus, weil hier viele, die im Osten ihre Arbeit verloren haben, nach Westen pendeln, aber im Osten wohnen blieben. Richard Röhrbein riet dazu, sich bei der Diskussion über die Randwanderung auch mit den Bodenpreisen zu befassen. Die Peripherie sei ja nicht zuletzt dadurch entstanden, weil dort das Einfamilienhaus für die Kleinfamilie erst erschwinglich wurde.

Detlev Ipsen wies darauf hin, dass der Bevölkerungsrückgang überhaupt erst ab dem Jahre 2020 richtig einsetze und es auch andere Möglichkeiten gebe, eine starke Schrumpfung zu verhindern, z.B. durch eine gesteuerte Zuwanderung. Selbst in der Lausitz gebe es durchaus positive Phantasie darüber, was man mit den weiten Landschaften noch anfangen könnte. Wolfgang Kil berichtete zum Schluss noch von einem Projekt, dort ein Karl-May-Land zu errichten. Diese Idee wurde jedoch aufgegeben, weil das neue Kraftwerk die Illusion zerstört habe. Zurzeit gebe es aber wieder eine neue Gruppe, die diese Idee weiterverfolge. „Fahren Sie doch mal in die Lausitz statt nach Kanada!“

Ende der Diskussion gegen 21:30 Uhr






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