02.07.2003
Protokoll zum 6. Gesprächsabend des Architektursalon am 02.07.2003
Susanne Hauser, Friedhelm Fischer: „Kassel und seine Identitäten“
Dieter Hennicken, Klaus Pfromm, Christian Kopetzki: „Kulturachsen in Kassel“
Der sechste Gesprächsabend war
der letzte im laufenden Programm 2002/03 des Architektursalons. Die beiden
Themen des Abends haben unmittelbaren Bezug zu aktuellen Planungsfragen in
Kassel und stehen auch vor dem Hintergrund der Bewerbung von Kassel zur Kulturhauptstadt
für das Jahr 2010. Es nahmen 20 Personen an der Veranstaltung teil. Zur
Einführung wurde ein Film mit einer Präsentation typischer Bilder
von Kassel gezeigt, der von einer Werbefirma hergestellt wurde (15 Minuten).
1) Kassel und seine Identitäten
Referat Susanne Hauser (Landschaftsgeschichte
und Landschaftsästhetik, Privatdozentin an der HU Berlin, derzeit Vertretungs-Prof.
an der Universität Kassel,) Ihr Referat teilt sich in zwei Unterthemen:
1. Das Konzept von Identität 2. Der zeitliche Aspekt von Identität
1) Das Konzept von Identität
Susanne Hauser erläutert ihren persönlichen
Zugang zur Frage von Identität und Raum. Sie erarbeitet z.Z. einen aktuellen
Forschungsantrag zu diesem Thema. Ihre Grundaussage ist die Definition von
Identität als Prozess. Identität bildet sich aus Vergangenheit und
Geschichte und aus der Erinnerung daran. So sind Regionen geprägt von
der Geschichte, auch in der industriellen Gesellschaft. Identität entsteht
in direkter Kommunikation, in Gesprächen und gehört somit zum Alltag.
Sie wird in Erzählungen geprägt, die räumliche Strukturen
einschließen. Sie entsteht und wird unterhalten über Kommunikation.
Dies können einfache Klischees sein, die über Medien (Zeitung,
Radio, Fernsehen) transportiert werden, lokale Rituale und lokale Ereignisse.
Identität bildet sich im sozialen Raum und kommt eigentlich ohne Erklärungen
aus. Identität bedeutet, gleiche Grunderfahrungen zu teilen, die nicht
mehr hinterfragt werden. Identität ist sowohl Ein- wie Ausschließungsmechanismus:
Die einen gehören dazu, die anderen eben nicht. Sie prägt sich
auch über Raum; eine Stadt mit großer Toleranz nennt man „weltoffen“.
2) Zeitaspekt, Erinnerung und Identität Da sich Identität an
persönliche und kollektive Erinnerungen anschließt, spielt die
übliche Formung der Vergangenheit eine große Rolle. Erinnerung
ist eine Konstruktion im Prozess. Die alten Geschichten werden immer wieder
neu erzählt und neu interpretiert. Man nimmt neue Akzentsetzungen vor.
Nach Jan Assmann gibt es zwei Formen von Gedächtnis: Das kommunikative
Gedächtnis (Zeitraum etwa 80 Jahre; enthält Klischees und Gemeinplätze)
und das kulturelle Gedächtnis (eher rituell, Bezug auf Gegenstände,
Feiern und Feste). Hier sind also auch die materiellen Aspekte wesentlich.
Wie Hannah Arendt betont, ist Materialität für Erinnerung notwendig.
So können die Folgen einer Stadtzerstörung, einer Zerstörung
von Dingen auch eine Zerstörung von Gedächtnis bedeuten. Und mit
dieser Zerstörung wird auch die Zugehörigkeit zu Territorien in
Frage gestellt.
Zusammenfassend gesagt: Identität ist ein Prozess. Verloren
gegangene räumlich-materielle Bezüge können relativiert werden,
da neue Erinnerungen hinzutreten und zerstörte Räume durch neue
ersetzt werden.
Referat Friedhelm Fischer (Dr., Wiss. Mitarbeiter an
der Universität Kassel)
Friedhelm Fischer ist seit 10 Jahren an der
Universität Kassel tätig (Bereich Stadtbaugeschichte und Stadterneuerung).
Bisher wohnt er in Göttingen, will aber jetzt endlich nach Kassel umziehen,
nachdem seine Kinder Abitur gemacht haben und inzwischen in Berlin studieren.
Fischer verweist eingangs auf Wiederaufbau-Parallelen wie Coventry, Lübeck,
Kiel und auch Kassel. Dabei zeige sich auch, dass die radikale Moderne schwierig
für die Identität einer Stadt sei. Er kommt damit zur Frage: Was
ist Identität? Entlang der folgenden thesenartigen Stichworte legt Fischer
seine Vorstellungen dar:
(1) Die verwundete Stadt („Die verpasste Stadt“,
Dieter Hoffmann-Axthelm)
(2) Die Stadt der Moderne als Problem; fehlendes
Selbstvertrauen in Kassel, Kritiker sind Nestbeschmutzer oder Nörgler
(3) Kulturelle Entwertung der 50er bis 70er Jahre;
(4) Stadt mit interessanten
Widersprüchen von Beharrung und Innovation
(5) Stadt mit einer Tradition
der Top-Down-Planung (Beispiel Lollis)
Konsequenzen:
Mit diesen Widersprüchen
muß man leben und an der Auseinandersetzung weiter arbeiten - zum einen
mit den Widersprüchen, die spezifisch mit Kassel zu tun haben und zum
andern mit jenen, die den Ansätzen der Moderne zugrunde liegen. Die
Empfehlung heißt, weiter zu gehen auf den eingeschlagenen Wegen zu
einer Korrektur der Moderne. Das heißt zugleich: Umkehr der Tendenzen
der kulturellen Entwertung der Nachkriegsmoderne.
Fragen: Kost: Wo sind
die Menschen? / Aebischer: Hinweis auf die Zerstörung nicht nur der
Bausubstanz / Glasauer: Es geht bei der Frage der Identität um Kommunikation…/
Ipsen: Was ist das Gemeinsame, die Schnittmenge? Welche Rolle spielt die
Bausubstanz?
Antworten: Glückliche und unglückliche Bezugnahmen
/ Was ist Typisch? Was ist überall gleich? / Schöne Umgebung /
Differenz Innen- und Außensicht / Enthässlichung / Geschichte
nur begrenzt aufgearbeitet / Industrie-Geschichte ungeliebt, lieber Kuppel
aufs Schloss, die 50er Jahre will keiner, Rolle der Medien und Eliten / Selbstbewusstseinsknacks
2) Kulturachsen in Kassel
Referat Klaus Pfromm
(Stadtplanung, Professor i. R. Universität Kassel)
Eigentlich sei es ja fast eine Zumutung, ein Konzept
vorzustellen, das in der kurzen Zeit von wenigen Stunden entstanden sei.
Man möge daher die Einzelheiten nicht so genau nehmen. Die Ausgangsfrage
war: Was ist Kultur? Vereinfacht gesagt das, was über das Lebensnotwendige
hinausgeht. Sie verfeinert im gesellschaftlichen Dialog die Lebensführung
zu einem Lebensstil. Europäische Kulturhauptstadt meint dann, einen
exemplarischen Beitrag zu leisten zur Fortentwicklung des europäischen
Lebensstils in seiner lokalen, nationalen Ausprägung. Der Stadtraum
als Kommunikationsmedium schafft vernetzte Verbindungen. Kritik am status
quo in Kassel: Es gibt derzeit keinen augenfälligen Kulturraum in der
Mitte, nur Einzelobjekte; die geschichtliche Struktur in Kassel ist gestört.
Zum Gesamtbild des vorgestellten Konzepts: Ziel sei es, Achsen der kulturellen
Kommunikation zu bestimmen und zu akzentuieren. Stadträume seien zu
schaffen, die die kulturelle Identität der Stadt repräsentieren
können.
Rahmenbedingungen: · Historische Bedeutung der Achse
· Ausstattung mit einigen nicht unwichtigen Kulturinstitutionen ·
Lage
im Herzen der Stadt · Fußläufigkeit ·
Ausbaubarkeit
· Stadtreparatur
Zum Konzept:
Zwei Straßen der von Landgraf
Karl und seinem Architekten und Städtebauer Simon Louis du Ry um 1762
erbauten Oberen Neustadt wird diese Funktion zugedacht: Die Karlsstraße
und die Schöne Aussicht, mit der Verlängerung zum Rondell. Beide
sollen den Königsplatz mit einem neuen Kasseler Kunsthaus, einem Museum
der Kunst des 21. Jahrhunderts, der Kunst der documenta, verbinden. Die Karlsstrasse
als rote Achse, in der städtisches Kulturleben erfahrbar sein soll. Die
Schöne Aussicht als grüne Achse, in der städtische Kunst und
Kultur sich mit Landschaftskunst und Landschaftskultur verbinden. Die Linien
Fünffensterstraße, Wilhelmstraße, Treppenstraße, Entenanger
bilden die Haupt-Querverbindungen.
Die rote Achse beginnt am neuen Kunsthaus
und dem Museum für Sepulkralkultur, führt durch den documenta-Park,
in dem eine Sammlung von Skulpturen früherer documentae den Besucher
erfreuen, vorbei an Murhardscher Bibliothek, Landesmuseum zur Fünffensterstraße.
Hier soll beiderseits der Oberen Karlstraße durch Neubaukomplexe, etwa
eines Medienzentrums, der Stadtgrundriss repariert werden.
Über eine
neue Querungshilfe führt der Weg durch den Rathausdurchbruch in den Rathaushof,
in dem die Stadtbibliothek, nach unten erweitert, sich in einem Lesefoyer
präsentiert; der Bürgersaal erhält im Erdgeschoss einen neuen
Eingang, das Bürgerforum; in einem Teil der Parkdecks wird eine Galerie
der Kunsthochschule installiert. Auf dem Karlsplatz akzentuieren zwei Portalbauten,
die Karlspassage, den historischen Stadtgrundriss der Oberneustadt. Über
den Friedrichsplatz, vorbei an Fridericianum und doc-4, das ein neues Gegenüber
erhält, einen Kunst-Archiv und –Verwaltungsbau, führt die rote
Achse zum Königsplatz.
Die Grüne Achse beginnt ebenfalls am Kunst-
Haus, führt über die Weinbergbrücke, der eine architektonische
Neugestaltung zuteil werden sollte, zur Neuen Galerie und dem Café
Rosenhang. Der Hang der Schönen Aussicht bietet sich als Ausstellungsparcours
von aktuellen documenta- Kunstwerken an: Vorbei am AOK-Gebäude, das
zu einem Art-Hotel umgenutzt werden könnte, führt die Grüne
Achse über den Friedrichsplatz, mit bester Aussicht auf die Display-Fassade
des Hauses der Wörter am Standort der ehemaligen Militärschule,
zu Theater und documenta-Halle und weiter zum Fußweg An der Karlsaue.
Das Umfeld dieses Weges, eine „kleine“ Schöne Aussicht bedarf einer
gründlichen landschaftsarchitektonischen Neugestaltung bis über
das Sommercafé auf dem Rondell hinaus. Vorbei an der Brüderkirche,
dem Marstall führt auch die grüne Achse über den Entenanger
zum Königsplatz.
Im Grunde sei der Gedanke nicht vollständig neu:
Zu erinnern sei an eine ältere Skizze von Prof. Schmalscheidt und auch
eine Idee von Prof. Speer, Frankfurt, mit ihren studentischen Arbeitsgruppen
im Rahmen des workshops "Behördengürtel" 1988.
Referat Christian Kopetzki
(Stadterneuerung und Stadtumbau, Professor Universität Kassel)
Christian Kopetzki erinnert an das Gutachten von Dieter Hoffmann-Axthelm aus dem Jahre
1986 „Die verpasste Stadt“ und gibt dann noch weitere ergänzende Erläuterungen
zum Konzept der Kulturachsen. Problem für die städtebauliche Rahmenplanung
sei insbesondere die Dominanz der Hauptachse Königstraße, während
die nächsten Parallelstrassen nur als Andienung vorgesehen und auch
so genutzt sind. Demgegenüber sei das Netz das bessere Modell. Derzeit
wird am Umbau der Neuen Fahrt gearbeitet mit dem Ziel, dort ebenfalls eine
Flanierzone zu schaffen. Dagegen ist für die Karlstraße bisher
keine vergleichbare Aufwertung geplant. Es gibt jedoch einen Plan, die Parkplätze
auf dem Karlsplatz zu beseitigen und dort eine Bebauung einzufügen. Wie
sich gezeigt hat, lehnen die Anwohner eine Bebauung des Karlsplatzes ab,
jedenfalls wenn dies zu einem starken Abbau der Parkplätze führe.
Der Rathauserweiterungsbau stelle die größte Bausünde der
jüngeren Vergangenheit dar; es sei aber abwegig, von seinem Abriss zu
reden.
Prämissen für das Konzept der Kulturachsen:
· Überschaubarer
Rahmen · Dominanz kultureller Nutzungen · Dichte von Ereignissen
· Klare Linienführung · Bauliches Profil zeigen (Bsp.
Graz)
Fragen:
Wegener: Vorschlag, Stadtbibliothek auf den Karlsplatz; Schöne-Aussicht-Nr.9:
Louis-Spohr-Gedenkstätte? / Eissenhauer: Umstrukturierung Landesmuseum,
Raumbedarf für Sonderausstellungen; Documenta fokussieren; Neue Galerie
erweitern (Parkplatz, Rosenhang) / Ipsen: Konzept der Kulturhauptstadt Graz
umfasste viele Veranstaltungen und unterschiedliche Aktionen – Wo könnten hier Aktionen
ihren Platz finden? Konzept scheint etwas zu museumslastig.
Abschlußdiskussion:
Stichworte:
Was gibt es denn aus heutiger Sicht Positives an den 50er Jahren? / Zum Konzept der Kulturachsen:
Müssen es denn unbedingt wieder Achsen sein? Andere Formen sind möglich
und vielleicht adäquater / Hauser: Junge Leute bis 30 Jahre schätzen
die 50er; der Entenanger als Gebiet der Zukunft / Fischer: Bei der Bewertung
der 50er Jahre ist zu differenzieren zwischen Verkehrsplanung (aus heutiger
Sicht negativ) und dem Städtebau (positiv) / Kopetzki: Geplantes Straßenfest
auf der Treppenstraße (4.-21.10.03) zeigt Akzeptanz / Mussel: Identitäten
sind grundsätzlich plural, Kulturachsen dagegen nur für spezielle
Gruppen (gebildete Schichten); Warum muß der Scaterplatz geopfert werden?
Unterstadt: Industriegeschichte; Soziale Stadt: Hinweis auf Nordstadt-Projekt,
dafür fehlt jedoch ein Gesamtkonzept. / Stadt in der Stadt / Geschichte
lesbar machen / Beispiel Graz: Ausgangspunkt war u.a. der Mangel an Modernisierung
/ Es geht bei der Kulturstadtbewerbung um die Präzisierung des Problems
und der möglichen Potentiale! / Ipsen: Wer kommt zur Kulturhauptstadt
– nur die Gebildeten? / Hauser: gebildete Schichten sind bildbar / Auch Straßenbahnlinien
können Geschichte verdeutlichen: Beispiel Linie 1, sie verbindet die Oberstadt
mit der Unterstadt.
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