Zur Eröffnung
Andreas Kleinefenn
None but those learnt in paintings, statuary,
the plastic arts and architecture can form a
judgement of any performance.
Raymond Pettibon Dokumenta 11 Kassel 2002
Liebe zur Eröffnung des Architektursalons Kassel versammelte
Freundinnen und Freunde!
Als Sylvia Stöbe nach der Grablegung von Peter Jockusch im renovierten Schlösschen
Schönfeld in Kassels Süden die Idee des Architektursalons leise antönte
(das wäre die sensible Schweizer Wortwahl), schlug mein Herz auf zwei Weisen höher:
Zum einen war Peter Jockusch der Mensch, der Konfliktbewältigung systematisch anging
und klargemacht hatte, dass nicht aggressive, nicht regressive, nur kreative Reaktion
Bewältigung genannt werden dürfe. Peter Jockuschs agnostisches
Vonhinnenstürmen war für mich konfliktträchtig genug und musste kreativ
bearbeitet werden.
Zum anderen hatte Sylvia durch die Wortwahl 'Salon' - sie hat nicht gesagt
'Gesprächskreis Architektur' oder 'Forum gebaute Umwelt' oder 'auch in der
Architektur wird alles gut' - eine ganz bestimmte Assoziationskette angesprochen,
die bei mir - zugegebenermassen höchst sentimental - dicht belegt ist.
Sentimental deswegen, weil der Ausdruck und die dahinterstehende Einrichtung in der
bürgerlichen Gesellschaft zwar aufs feinste entwickelt wurde, sozusagen den
Inbegriff bürgerlicher kultureller und gesellschaftlicher Betätigung darstellt,
ich jedoch bei dieser Sicht nur dann bleiben kann, wenn ich nicht so genau hinsehe,
was in der ernstzu-nehmenden Literatur - nicht zuletzt in Sylvias Dissertation [1]
- alles steht an fundierten Analysen über die Entwicklung der Persönlichkeit
und der Individualität in den letzten 300 Jahren und der Ausprägung von
Öffentlichkeit und Privatheit in dieser Periode.
Ich blicke bewundernd auf die Bürgerliche Gesellschaft mit ihren unendlich
phantasievollen und humanen Formen des Miteinanderumgehens, begründet durch den in
'Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit' programmatisch sich spiegelnden Wunsch, die
Kälte der aristokratischen Gesellschaft, die eine reine Überlebenskälte
geworden war, endgültig in den Hades zuschicken und die Wärme der neuen Klasse
zu verbreiten.[2]
Also schuf sie öffentliche, private Räume, den Familienräumen vorgeschaltet,
in denen sich - je nach Temperament der Gastgeberin - das kulturelle Leben entfalten konnte.
Aus den bildlichen Darstellungen dieser Räume schöpfen immer noch die
Opernausstatter, wenn sie 'La Traviata', La Bohème, oder sonst eine Oper des
19. Jhdts. mit dem grossen Frauensterben für ein breites Fernseh- oder
Filmpublikum anziehend machen wollen.
Fernsehen gab es nicht, die Abende waren lang, und Kultur wurde gleichsam vorhomerisch,
erzählend, vermittelt, wobei dem nun auch 'freien Künstler' eine besondere
Rolle zufiel: Schubert musste bis zum Überdruss aufspielen, für
Liszt war es eine wichtige Auftrittsmöglichkeit, und wenn man Chopin hört,
riecht man geradezu den Pariser Salon, in dem er seine Stücke vorgetragen hat.
Kunstwerke schmückten die Räume oder wurden eigens für besondere
Anlässe herbeigetragen, die Ateliers der Künstler waren für diese
Treffen besonders gesuchte Orte, daher auch der Name 'Vernissage', le vernis, der
Firnis, the varnish war noch feucht, man war ganz vorne am künstlerischen
Geschehen.
Heine lernte Grabbe, unseren verqueren Detmolder Auditeur mit seinen wortgewaltigen
Dramen, in einem Berliner Salon kennen und äusserte sich liebevoll-verständnisvoll
doch sehr fragezeichenreich.
Also war der Salon der Ort schlechthin, in dem Öffentlichkeit stattfand, in dem die
Gäste als 'Schauspieler' gemäss den gesellschaftlichen Konventionen ihre Rolle
spielen konnten, wie sie es wollten oder wie man sie liess: im Privaten, müssten
wir heute sagen. Der Staat hatte in diesem Spiel keine Funktion wie heute, dem man
inzwischen den Begriff der Öffentlichkeit überlassen hat. Nebenbei gesagt
musste man auch einen Ort haben, in dem man die heiratsfähigen Töchter und
Söhne vorstellen konnte, wo 'zwanglose', kontrollierte Begegnungen und
Einübungen möglich wurden.[3]
Uns hat man eingeredet, wir hätten unsere Individualität zu entwickeln und
setzt uns dann atomisiert und intimisiert vor die Glotze. Da muss sich doch eine
besondere Sehnsucht nach etwas anderem, direkten, warmen, ästhetischen
(aistanomai = wahrnehmen, aber bitte mit Augen, Ohren, Nase, Zunge und Händen)
einstellen -[4]- jedenfalls etwas, was in der bürgerlichen Gesellschaft in
ihrem Wärmewunsch und in der Welt beschränkten Angebots bei noch nicht
erfundenen Konservenmagazinen und Surrogatlagerhäusern noch vorhanden war.
Aber Vorsicht: einer derer, der mich in meinem sentimentalen Schwärmen
empfindlich bremste und dialektisches Denken einforderte, war Peter Sloterdijk
mit seiner "Kritik der zynischen Vernunft" [5]. Er führte aus, dass diese als so
fruchtbar gepriesene Wärme bereits den eisigen Hauch des Widerspruchs in sich
barg, der dadurch entstand, dass die Bürgerliche Gesellschaft zwar durch
unendliche Tüchtigkeit in allen Bereichen die Legitimation der Machtübernahme
aufbauen konnte, dabei aber diejenigen übersehen hatte, die wirklich die Arbeit
machen mussten. Die hatte dann Karl Marx als die schliessliche und ausgewählte
Klasse erspäht. Sie hat ihn logischerweise jämmerlich enttäuscht.
Und wir sitzen nun da mit unserer schönen emanzipierten und modernen Welt und
haben das Alte nicht mehr und greinen, und das neue gibt uns nicht genug fürs Herz,
und modern wollen wir gar nicht mehr sein - oder doch? - und die Postmoderne ist
auch vorbeigerauscht: Verstimmte, ratlose Schlüsselkinder der kulturellen [6]
Entwicklung, denen das öffentliche Angebot der staatlichen Organisationen oder NGO [7]
teilweise fade schmeckt.
Nicht so Sylvia und Michael.
Sylvia hat das Haus, sie will lebendig bleiben für die Architekturlehre
an der Kasseler Hochschule, beide wollen in Kassel mehr erleben als nur dort
aufgewachsen zu sein oder zu leben, wollen die Freunde der verschiedenen Facetten
untereinander bekannt machen, damit das Netzwerk der Gleichgesinnten ein dichtes
Mycel bildet ähnlich der Notenschrift, wo man nur die einzelnen Noten sieht,
die Musik jedoch aus (Noten-)Festpunkten und dem Geschehen im Zwischenraum, der unnotiert
bleiben muss, zustande kommt.
Sylvia hat Architektur studiert und sich dann in die Bedarfsplanung, die
Wahrnehmungspsychologie und die Ästhetik vertieft [8].
Michael - jetzt gerade pensioniert - hat die Moderne im Studium aufgesogen und
gleichzeitig dem Drang zur Rationalisierung des Planungs- und
Entwurfsprozesses der 60er-, 70er-Jahre nachgegeben. Nicht nur, dass sich beide
Le Corbusier genau angesehen haben, sondern auch instinktiv einem Satz gehuldigt
haben, den er angeblich gesprochen haben soll:
to design requires talent,
to program requires genius. [9]
Beide fühlen sich dem genieverdächtigen Programmieren verpflichtet
und haben ihre Fähigkeiten gerade bei der Auswahl der Themen und
KontributorInnen für den Salon gezeigt.
Es wäre zu wünschen, dass dieser Salon ein Salon der alten/neuen Art wird,
in dem sich Talent und Genie aller Arten gerne tummelten und zu erweiterter
Diskussion über und zu interessanten Einsichten in das ewige Architekturthema
führen würde.
Wir wünschen dem Architektursalon Kassel alles Gute.
Andreas Kleinefenn, Detmold, 6.Juli 2002
[1] Sylvia Stöbe: Privatheit -
privater Raum, Kassel 1989
[2] 'Wärme- und Kältestrom'
verwendete als Begriff Ernst Bloch in einem Vortrag, den er in den 60ern an der
TH Stuttgart hielt, wo ich seinerzeit studierte.
[3] Während meiner Schulzeit
in Freiburg besuchte ich öfters einen Schulkameraden, dessen Mutter den Tee
servierte, der um eine mit allerhand kostbaren Nippsachen umlegte Couch
stattfand. Dort befand sich ein rechteckiges geschliffenes Bleiglastablett, das
in ihrem Elternhaus Sonntags ab 11 Uhr von dem schwarz gekleideten
Dienstmädchen den Besuchern entgegengehalten wurde. Legten Sie eine
Visitenkarte darauf, begrüssten Sie den Hausherrn, legten Sie zwei darauf
bezogen sie die Gattin mit ein, lagen drei darauf, wurden auch die Kinder (oder
fast erwachsenen Töchter) mitbegrüsst. Lagen die Karte oder die Karten mit dem
Gesicht nach oben, war man bereit, einer Einladung zum Eintreten Folge zu leisten,
legte man sie aufs Gesicht, galt dies nur der Begrüssung, man wollte eigentlich
weiter. Zumindest gab es in der Stadt eine grosse Anzahl von Menschen, die in
dieser Zeit die Möglichkeit hatten, in unter der Woche mit Staubhussen
geschützte Salons einzutreten, wenn ihnen danach war. Und sicherlich gab es
solche Salons, die besonders reizvolles Leben entfalteten. Wo kann man heute
unverbindlich-verbindlich hingehen, wenn man 'Leute sehen' will oder einem nach
'gesehen werden' ist.
[4] Heute wird vielfach
'authentisch' gesagt, dieses Wort gehört - noch nicht - zu meinem Wortschatz.
[5] Peter Sloterdijk: Kritik
der zynischen Vernunft, Frankfurt 1983, Erster Band, S.129ff. Gleich nach dem
Erscheinen 1983 gab mir Peter Jockusch diesen Literaturhinweis.
[6] Auch der derzeitigen
wirtschaftlichen Entwicklung
[7] Ich meine Non Governmental
Organisations wie Architektenkammer, BDA, DAM usw.
[8] Sylvia Stöbe: Chaos und
Ordnung in der modernen Architektur. Potsdam 1999
[9] to design = Entwerfen, to
program = Nutzungsplanung, Bedarfsplanung, Programmplanung, aber eben noch mehr
im Sinne anthropologisch fundierter Planung. Zitiert von Corwin Bennett, von
Peter Jockusch von einer Tagung in Chicago (?) mitgebracht. Man würde einiges
dafür geben, die französische Originalversion zu kennen.
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